Manchmal liegen Theorie und Praxis weit auseinander. So bezeichnet quantitative Lockerung (QE: „quantitative easing“) eine geldpolitische Maßnahme durch eine Zentralbank, bei der mittels Ankauf von Anleihen (zumeist Staatsanleihen, mittlerweile aber auch Unternehmensanleihen) eine Senkung der Kreditzinsen und eine Vermehrung der Geldmenge angestrebt wird. Ziel ist es, die Kreditvergabe anzukurbeln und dadurch Investitionen für die Realwirtschaft und neue Arbeitsplätze zu generieren. So die Theorie.
In der Praxis hat QE die Erwartungen nicht erfüllt. Dennoch ist insbesondere für die Europäische Zentralbank (EZB) der Ankauf von Staatsanleihen von immenser Bedeutung. Es geht dabei um nichts Geringeres als den Erhalt der europäischen Währungsunion (EWU).
Erfolg von QE nicht sichtbar
Seit der Finanzkrise von 2007/2008 haben sich beinahe alle großen Zentralbanken an QE versucht. In Europa erwirbt die EZB über die Zentralbanken der Mitgliedsländer seit März 2015 monatlich Anleihen im Gegenwert von 80 Milliarden Euro. Das Programm wurde unlängst bis Ende 2017 verlängert, wobei das monatliche Volumen für den Zeitraum von April bis Dezember auf 60 Milliarden Euro abgesenkt wurde.
Allerdings gelang es mit quantitativer Lockerung weder der EZB, noch den anderen großen Zentralbanken, die Inflation in Richtung ihrer Zielmarke von zwei Prozent zu bringen: Obwohl sich das aggregierte Volumen der Bilanz von US Federal Reserve, Europäischer Zentralbank, Bank von Japan, Bank von England und Schweizer Nationalbank zwischen dem ersten Quartal 2007 und dem dritten Quartal 2016 vervierfachte, fiel die Inflationsrate der OECD Länder von 2,3 Prozent auf 1,0 Prozent (siehe Grafik).
QE finanziert Ungleichgewichte im Euroraum
Doch vom Inflationsziel einmal abgesehen, erfüllt QE für den Euroraum eine entscheidende Rolle. Denn das Programm erlaubt der EZB, unter Umgehung des Europäischen Stabilitätsmechanismus hohe Zahlungsbilanzdefizite von Ländern mit wackligen Staatsfinanzen und Banken zu finanzieren und so die EWU vor dem Verfall zu bewahren.
Nehmen wir das Beispiel Italiens. Kauft die Banca d’Italia Anleihen des italienischen Staates im Rahmen des Public Sector Purchase Programs (PSPP) der EZB, weist sie den Banken Reservegeld zu. Gegen dieses Reservegeld schaffen die Banken Einlagen, die nun zum Kauf der Staatsanleihen verwendet werden. Folglich steigt sowohl die Menge an Reservegeld als auch an Giralgeld an.
Nehmen wir nun an, die Verkäufer der Staatsanleihen trauen den italienischen Banken nicht und überweisen die erhaltenen Einlagen nach Deutschland. Einlagen und Reservegeld der italienischen Banken gehen nun an die deutschen Banken über. Innerhalb des gleichen Landes wäre die Überweisung ein simpler Vorgang. Geht die Überweisung im Euroraum jedoch über Grenzen, wird die Verbuchung komplizierter. In Deutschland wird ein Kapitalzufluss in Form von Giralgeldeinlagen verbucht, in Italien ein Kapitalabfluss.
Über die Kolumne
In Zeiten negativer Zinsen und quantitativer Lockerung steht so manche vormals gültige Faustregel des Finanzmarkts auf dem Kopf. In dieser Reihe bringen Experten der CFA Society Germany etwas Ordnung in unsere heutige Verkehrte (Finanz)welt. Die CFA ist der mitgliedsstärkste Berufsverband für die Investmentbranche in Deutschland. Gemeinsam mit dem globalen Mutterverband CFA Institute, engagiert sich die CFA Society Germany seit Jahren für professionelle und ethische Standards in der Investmentbranche.
Deutschland hat nun einen Zahlungsbilanzüberschuss, Italien ein Zahlungsbilanzdefizit. In Zeiten des Goldstandards wäre ein solches Ungleichgewicht dadurch ausgeglichen worden, dass Goldreserven von Italien nach Deutschland übertragen worden wären. Im Euroraum darf Italien aber wie in einer Kneipe einen Bierdeckel aufmachen. Dazu wird für Italien in dem dafür eigens eingerichteten Interbankzahlungssystem, genannt Target2, eine Verbindlichkeit gegenüber dem Eurosystem eingetragen. Im Gegenzug erhält Deutschland eine Forderung. Es ist ungefähr so, als ob Italien beim Kneipenwirt erstmal hat anschreiben lassen, während Deutschland schon mal künftige Bestellungen vorbezahlt hat. Dies ist in der untenstehenden Grafik gut zu sehen. Forderungen der Bundesbank und Verbindlichkeiten der Banca d’Italia steigen seit Beginn des Anleihekaufprogramms der EZB rasant an.
Bundesbank könnte mehr Druck ausüben
Solange die Aussicht gut ist, dass Italien seine Schulden in der Kneipe, also seine Verpflichtungen im Eurosystem, künftig wieder abtragen wird, kann der deutsche Steuerzahler, der entsprechende Forderungen an das Eurosystem hat, beruhigt sein. Jedoch sind in Italien eurokritische Parteien auf dem Vormarsch und es ist keineswegs sicher, dass das Land nicht aus der Europäischen Währungsunion austreten wird. Es ist denkbar, dass der italienische Staat dann eher den Bankrott der Banca d‘Italia hinnimmt, die als eigenständige Aktiengesellschaft mit erheblicher privater Beteiligung aufgestellt ist, als deren Verbindlichkeiten gegenüber dem Eurosystem zu honorieren.
Die italienischen Verpflichtungen innerhalb des europäischen Target2-Zahlungsverkehrssystems betrugen im Oktober rund 360 Milliarden Euro. Der Anteil Deutschlands am Kapital der EZB beträgt ohne Italien rund 31 Prozent. Bei einem Ausfall der italienischen Schulden an das Eurosystem käme also ein Verlustanteil von rund 112 Milliarden Euro auf den deutschen Steuerzahler zu.
Die Target2-Kredite der Bundesbank an das Eurosystem werden bisher mit dem Leitzins der EZB verzinst, also derzeit mit null. Wäre es angesichts des nicht nur mit Italien verbundenen Verlustrisikos nicht gerechtfertigt, wenn diese Kredite auskömmlich verzinst würden? Bei zwei Prozent, ähnlich dem Zins auf länger laufende italienische Staatsanleihen, läge das jährliche Zinseinkommen der Bundesbank auf die gesamten Target2-Kredite von 754 Milliarden Euro immerhin bei 15 Milliarden Euro.
Und sollten für die Target2-Kredite an die Defizitländer nicht auch Sicherheiten in Form von Gold, Devisenreserven und anderem Staatsbesitz verlangt werden? Auch für Bankkunden ist die Stellung von Sicherheiten bei der Aufnahme von Krediten schließlich Gang und Gäbe. Denkbar wäre, dass die Bundesbank hier größeren Druck ausübt, indem sie beispielsweise ihre Mitgliedschaft bei Target2 einfriert und den Interbankzahlungsverkehr separat in einem System abwickelt, das zum Ausgleich der Salden zwingt.
Das neue Motto der EWU
Man könnte meinen, dass „verkehrte Finanzwelt“ zum Motto der EWU geworden ist. Entgegen der ursprünglich erklärten Absicht und entsprechender Rechtsverordnungen entwickelt die EZB die Währungsunion unter dem Deckmantel der Geldpolitik zur Haftungsgemeinschaft. Hilfestellung erhielt sie 2015 vom Europäischen Gerichtshof, der in seinem Urteil über das OMT (Outright Monetary Transactions)-Programm befand, dass Geldpolitik ist, was die EZB als Geldpolitik deklariert. Es scheint als stünden Euro-Finanzwelt und Europarecht gleichermaßen Kopf.