Viele Wahrheiten Misstrauen gegen Statistik befeuert Parallelwelten

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Berechnung und Bauchgefühl

In den vergangenen Jahren aber hat sich die Welt dramatisch verändert. Keine dieser Annahmen stimmt mehr. Oder, wie es der Soziologe Zygmunt Bauman vor seinem Tod formulierte: „Wir werden Zeugen einer Transformation von der beständigen Modernität des 20. Jahrhunderts zu einer liquiden Modernität der Gegenwart. Leben ist alles, aber nicht vorhersagbar.“

Die Frage ist: Haben sich die statistischen Methoden mit entwickelt? Oder messen Statistiker und Ökonomen die Welt des 21. Jahrhunderts mit den Instrumenten des 19. und 20. Jahrhunderts?

Wissenschaft und Wahrheit

In einem Gebäude, das definitiv aus dem 20. Jahrhundert stammt und dessen architektonische Transformation ins 21. Jahrhundert erst in diesen Monaten vorbereitet wird, sitzen an einem der ersten lauen Tage des Jahres drei Herren und versuchen, sich über diese nicht unkomplizierte Ausgangslage einen Überblick zu verschaffen. Robert Kirchner, Reinhold Stahl und Johannes Hoffmann sind die obersten Hüter über die statistischen und volkswirtschaftlichen Deutungen der Bundesbank. Was ist ein Einzelfall, was ist ein gerechter Durchschnitt? Was ist Statistik, was nur Prognose? Das sind Fragen, mit denen sich die drei Herren Tag für Tag auseinandersetzen. Und wer ihnen dabei zuhört, ahnt, dass das auch mal einfacher war. Alles habe, erinnern sich die Herren, mit der Einführung des Euro begonnen. Da habe man zum ersten Mal das Gefühl gehabt, die Wahrheit, die aus ihren Zahlen sprach, und die Wahrheit, die ihnen viele Bürger schilderten, hätten nicht mehr zusammengepasst. Während die Bundesbank in dieser Zeit stabile Preise für Deutschland meldete, hatten viele Deutsche das Gefühl, ihr Leben sei durch die neue Währung teurer geworden.

Korrelation vs Kausalität

„An einen Anruf erinnere ich mich noch sehr gut“, sagt Hoffmann und schmunzelt vergnüglich. „Ein Mann behauptete, alles sei teurer geworden. Als Beispiel nannte er mir eine Mausefalle, die er statt für 5 D-Mark nun für 5 Euro gekauft habe. Ich habe dann gesagt: Glaube ich sofort. Aber was ist mit Ihrer Miete, Ihren Versicherungsprämien usw. Und dann habe ich gefragt: Welchen Anteil Ihres Einkommens geben sie für Mausefallen aus?“ Nun schmunzeln Herr Kirchner und Herr Stahl auch.

Die Leute führen eben als Beleg für ihr Bauchgefühl Einzelbeispiele an. Hoffmann dagegen hat als Beleg den Durchschnitt aller Einzelfälle im Blick. Für Hoffmann war die Sache damit erledigt. Für die meisten Deutschen aber nicht. Robert Kirchner, der als stellvertretender Statistikchef die eher lebensnahen ökonomischen Daten der Bundesbank überwacht, legt die Stirn in Falten und sagt: „Man müsste sogar skeptisch werden, wenn die Erfahrung des Einzelnen identisch wäre mit dem Durchschnitt. Alles wäre dann gleich, und man bräuchte gar keine zusammenfassende Statistik. Wir brauchen sie ja, damit man sich vom Einzelfall nicht leiten lässt. Dass dann ein Abstand zwischen Einzelfall und Allgemeinem sein kann, das liegt ja auf der Hand.“ Was passiert aber, wenn der Abstand zwischen der Lebenswirklichkeit des Einzelnen und dem Mittel zu groß wird?

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