Viele Wahrheiten Misstrauen gegen Statistik befeuert Parallelwelten

Seite 4/5

Im toten Winkel

Die Berechnung der Geldwertstabilität im Euro-Raum, immerhin der wichtigste Maßstab für die Geldpolitik, etwa: Ist die Teuerung in Südeuropa niedrig und in Nordeuropa hoch, ist das Mittel ausgeglichen. Dass der Deutsche aber die Tomaten, die in Italien billiger werden, nicht kauft, sondern sich über deutlich gestiegene Preise ärgert, das bleibt in dieser Logik sein Problem. „Natürlich“, sagt Hoffmann, „darf es unterschiedliche Interpretationen für einzelne Indikatoren geben. Schwierig wird es aber, wenn jemand sagt, die wahre Inflationsrate ist doppelt so hoch.“ Daran aber, da lassen sie hier bei den Hütern des Geldes keinen Zweifel, wollen sie nicht rütteln: Die Methode, mit der man etwa die Inflation messe, sei sicher. „Für alle Statistiken gilt, dass die Methodik und die Erhebungssysteme fortlaufend überprüft und angepasst werden“, sagt Chefstatistiker Stahl. Und Hoffmann ergänzt: „Aber man muss das abwägen: Denn auch Methodenkontinuität ist ein hohes Gut. Sie wollen ja Werte auch über die Zeit vergleichen, und das können sie nur, wenn auch die Erhebung vergleichbar bleibt.“ Die Welt der Statistiken und Daten, hier bei der Bundesbank ist sie unruhiger geworden. Aber das sieht man nicht als Grund, unruhig zu werden. Das meiste, da sind sich die drei Herren einig, sei doch ohnehin vom Gesetzgeber festgelegt: Welche Daten erhoben werden, welche Werte wie berechnet werden. „Dienstleister“ sei man hier eben. Seltsam passiv klingt das. Man nimmt ihnen, wie sie da sitzen, ab, dass es sie wirklich wundert, wenn die sorgsam aufbereiteten Zahlen in der Öffentlichkeit plötzlich ein Eigenleben entwickeln. „Makroökonomische Statistiken kann man nicht lesen wie ein Kassenbuch. Unser Wunsch wäre, das nicht zu verwechseln und die Unsicherheit immer angemessen in Rechnung zu stellen.“

Wertloser Mittelwert

Während sich Kirchner, Hoffmann und Stahl so gegen die Wirklichkeit abzusichern versuchen, zerrt diese immer heftiger an ihnen. Da sind Politiker, die in den Zahlen Bestätigung für ihre Politik suchen. Da sind Journalisten, die in den Zahlen Bestätigung für möglichst verkaufsfördernde Schlagzeilen suchen. Da sind Bürger, die in den Zahlen Halt für ihre Vorurteile suchen. „Die amtliche Statistik ist die beste, die wir haben. Man darf die Leistungsfähigkeit von Statistik aber auch nicht überschätzen“, sagt Kirchner. Und es klingt ein wenig, als sei Statistik unwillentlich verführt worden.

Zweifel der Zahlenmenschen

Es gibt neben der Bundesbank eine zweite Institution, die in Deutschland gesetzlich beauftragt ist, für Übersicht und Wahrheit zu sorgen. 1700 Menschen arbeiten in Wiesbaden daran, die deutsche Gesellschaft zu vermessen. Es ist der Hauptsitz des Statistischen Bundesamtes. Dort ist der Zweifel stärker gesät als in Bonn. Denn das, was die Menschen fühlen, und das, was die Statistiker hier messen – es passt oft nicht mehr zusammen. Sibylle von Oppeln-Bronikowski ist Direktorin des Statistischen Bundesamtes und leitet die Strategieabteilung. Die Volkswirtin arbeitet seit über 30 Jahren hier. Ihr Erweckungserlebnis stimmt mit dem der drei Bundesbanker überein: „Bei der Einführung des Euro haben wir erstmals einen spürbaren Unterschied festgestellt zwischen dem, was die Menschen fühlen, und dem, was die Zahlen sagen“, beschreibt sie. Denn damals riefen jeden Tag Menschen in der Telefonzentrale an, die nicht glauben wollten, was die Statistiker aus Wiesbaden ihnen beschrieben. Keine Preissteigerung? Kann nicht sein!

„Wir müssen viel daransetzen, dass Menschen nicht nur die Durchschnittswerte wahrnehmen“, Sibylle von Oppeln-Bronikowski, Destatis. Quelle: Alex Kraus für WirtschaftsWoche

Ein anderes Beispiel seien die Arbeitsmarktzahlen. Viele Menschen wollen nicht glauben, dass die Zahl der Erwerbstätigen wächst – wie die Statistik sagt. Der Anstieg liegt in erster Linie tatsächlich nicht daran, dass viel mehr Menschen einen festen Job haben. Sondern an der atypischen Beschäftigung: Wenn ein Arbeitssuchender einen 1-Euro-Job annimmt, gilt er als angestellt und fällt aus der Arbeitslosenstatistik raus – egal, wie prekär die Arbeitssituation. Solche Hintergründe verschwinden oft im toten Winkel.

„Wir müssen viel daransetzen, dass Menschen nicht nur die Durchschnittswerte wahrnehmen, sondern die gesamte Bandbreite der Zahlen, die zu diesen Durchschnittswerten führt“, sagt von Oppeln-Bronikowski. Die Statistiker in Wiesbaden passen derzeit einige Methoden an. So war es bislang so, dass bestimmte Phänomene mit Postleitzahlen, Landkreisen oder Bundesländern verknüpft wurden. „Unsere gängigen Raster können bestimmte Phänomene nur schwer beschreiben“, sagt von Oppeln-Bronikowski. Deshalb hat sie die geografische Zuordnung in bestimmten Erhebungen völlig umgekrempelt. Die Menschen werden nicht mehr einem Verwaltungsbezirk zugeordnet, sondern Quadrateinheiten auf der Landkarte. Denn ob eine Region wirtschaftlich boomt oder nicht, hängt nicht an ihrer Postleitzahl, sondern an Dingen wie der nahen Bahnstrecke, dem Breitbandausbau oder dem guten Autobahnanschluss. „Das kommt stärker an die Lebensrealität der Menschen ran“, sagt die Direktorin. Schließlich ist das wohl der größte Grund für das Misstrauen gegenüber den Zahlen. Denn der Durchschnitt in einer Statistik ist nur glaubwürdig, wenn Menschen das Gefühl haben, Teil davon zu sein.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%