Viele Wahrheiten Misstrauen gegen Statistik befeuert Parallelwelten

Anhänger von US-Präsident Donald Trump, Europas Rechtspopulisten, ja selbst viele Fans von SPD-Hoffnung Martin Schulz: Immer mehr Menschen zweifeln an der Wahrheit von Daten. Das liegt auch daran, dass Statistiker sich eine Parallelwelt geschaffen haben. So aber wird Wirtschaftspolitik irgendwann unmöglich.

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Quelle: Fotolia

An einem Herbsttag im Jahr 2015 sitzt der Ökonom Ulrich van Suntum an seinem Schreibtisch in der Universität Münster und regt sich auf. Das Jahr, in dem fast eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kam, neigt sich dem Ende entgegen, doch der Gelehrte sieht sich am Beginn eines Kampfes. Um nichts Geringeres als die Wahrheit soll es gehen. Der Professor bekommt an diesem Vormittag eine E-Mail. Es ist der Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). In jener Ausgabe schicken die Forscher aus Berlin eine Studie mit, der sie den Namen „Integration von Flüchtlingen – eine langfristig lohnende Investition“ gegeben haben. Die neuen Arbeitskräfte, heißt es da, werden laut den vorliegenden Daten das deutsche Pro-Kopf-Einkommen erhöhen. Als van Suntum die Seiten liest, staunt er, um sich dann mit jeder Zeile ein wenig mehr zu ärgern. „Das schien mir nicht plausibel. Die Methodik war mangelhaft und nicht dokumentiert“, sagt der Volkswirt heute. Noch am gleichen Tag schreibt er eine E-Mail an Marcel Fratzscher. Doch der DIW-Chef lässt die Fragen aus Münster unbeantwortet. Da setzt sich van Suntum an den Besprechungstisch seines Professorenbüros und legt los. Drei Tage lang arbeitet er mit einem Mitarbeiter an einer Erwiderung. Das Fazit der Münsteraner: „Statt eines Gewinns für die Volkswirtschaft bedeutet der Flüchtlingszustrom ökonomisch eine massive Belastung der einheimischen Bevölkerung.“ Es ist das komplette Gegenteil von dem, was Fratzscher behauptete, obwohl beide mit den gleichen Zahlen arbeiten.

Nun kann man von van Suntum halten, was man will. Er zählt sicher nicht zur wissenschaftlichen Spitze seines Fachs, auch gilt er spätestens seit er sich mit einem gewissen Bernd Lucke aufmachte, der deutschen Rechten eine Wahl-Alternative zu bieten, als politisch anstößig. Und doch lohnt es sich, auf die Anekdote einzugehen. Denn die Uneinigkeit ist mehr als ein Zwist unter zwei Ökonomen, die sich nicht ausstehen können. Es zeigt, wie selbst einfache Zahlen mittlerweile zu Waffen des politischen Nahkampfes geworden sind. Zwar hat es immer Streit darüber gegeben, wie Daten zu interpretieren sind. Doch mittlerweile geht der Streit in immer mehr Fällen nicht darum, wie sie zu interpretieren sind, sondern welche Zahlen und Statistiken überhaupt die Wirklichkeit widerspiegeln.

Die Chronologie, die nachzeichnet, wie reine Zahlen ihre Unschuld verloren, füllt sich: Da ist etwa der neue US-Präsident Donald Trump, der grundsätzlich Daten eher als Knetmasse für die Bestätigung seines Weltbilds sieht: Neu im Amt, behauptete er, BMW schade durch massive Importe von Autos der amerikanischen Industrie, obwohl kein Autobauer mehr Autos aus den USA in alle Welt exportiert als die Münchner. Diese Woche rächte sich , dass Trump die Gesundheitsreform seines Vorgängers Barack Obama gegen jede Datenlage als soziale Ungerechtigkeit verdammte; da von seinen Abschaffungsplänen entgegen Trumps Verlautbarungen mehrere Millionen Amerikaner negativ betroffen wären, verweigern selbst Republikaner ihm in der Frage die Gefolgschaft. Und doch greift das Prinzip Trump im Umgang mit Daten um sich: Die Briten entschieden sich für den Ausstieg aus der Europäischen Union, obwohl sämtliche Daten für diesen Fall wirtschaftliche Nachteile vorhersahen. Und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat mit dem Versprechen, die Agenda 2010 abzuschwächen, Erfolge, obwohl viele Daten deren Folgen positiv sehen.

Der Zweifel an der Wahrheit von Daten und Zahlen ist eine der zentralen Bruchstellen westlicher Gesellschaften. Im Vorfeld der US-Wahl gaben 68 Prozent der Trump-Unterstützer an, dass sie den veröffentlichten wirtschaftlichen Daten misstrauen. In Großbritannien äußerten sich im Vorfeld des Brexit-Referendums 55 Prozent der Bürger skeptisch, dass die Regierung die wirtschaftlichen Auswirkungen von Einwanderung korrekt darstelle. Und zwei Drittel der Deutschen haben „nennenswerte Zweifel“ daran, dass die von amtlichen Stellen veröffentlichten Statistiken zur Zuwanderung, zur Einkommens- und Vermögensverteilung und zur Arbeitslosigkeit „die Wirklichkeit einigermaßen korrekt widerspiegeln“, ermittelte das Wirtschaftsforschungsinstituts Dr. Doeblin.

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