Zum 30. Todestag Friedrich von Hayeks Warum Sie gerade jetzt von Hayek lesen sollten

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Schwächen von Hayeks Denken

Bau der Berliner Mauer Quelle: dapd

Hayek ist der Auffassung, dass die westlichen Gesellschaften „von ihren eigenen Idealen und von dem, was sie von ihren Feinden trennt, nur verworrene Vorstellungen“ besitzen – und sucht sie davor zu bewahren, denselben Weg einzuschlagen, den das national-korporatistische Deutschland im Wilhelminismus eingeschlagen hatte. So wie altpreußischer Geist und sozialistische Gesinnung eine deutsche Volksgenossenschaft vorbereitet hätten, meinte Hayek, so befinde sich nun England – mit 50 Jahren Verspätung – auf der abschüssigen Bahn in Richtung Knechtschaft, weil es seine liberalen Grundsätze verrate.

Die große Schwäche von Hayeks Denken besteht darin, dass er es nie von dieser Rutschbahntheorie reinigte. Für die evolutorische Entwicklung von ökonomischen Mischsystemen, in denen die Sache der Freiheit vielleicht nicht gewinnt, aber eben auch nicht rettungslos verloren ist, hatte er keinen Sinn – und weil er als Kassandra des Sozialismus hinter jedem Zuwachs staatlicher Fürsorge eine strukturelle Freiheitsberaubung witterte und hinter jeder sozialpolitischen Maßnahme eine Gleichmacherei, die die Dynamik der Marktwirtschaft infrage stellt, ereilte ihn bald das Schicksal eines politmedialen Phrasenspenders.

Die forcierte Verve, mit der Hayek als kultisch verehrter Freiheitsprediger und leidenschaftlich verschriener Reaktionär gegen Staatsbeteiligungen, Umverteilungen, Gewerkschaften, soziale „Zwangsversicherungen“ und zuweilen auch ordnungspolitische Rahmensetzungen zu Felde zog, stand nicht nur in seltsamem Widerspruch zu einem Wohlstandswachstum, das dennoch stattfand; sie überschattete auch, viel schlimmer noch, die intellektuelle Brillanz seiner Theorie komplexer Ordnungen. Bis heute hat sich der weltabgewandte Gelehrte, der Hayek auch war, nicht von der politischen Übernutzung der Schlussfolgerungen erholt, die er fälschlicherweise aus den eigenen Grundsätzen ableitete.

Die Kohärenz und Dichte von Hayeks Argumentation macht seine Ordnungstheorie auch heute noch zu einem großen Leseabenteuer. Hayek erweitert den methodologischen Individualismus der Grenznutzenlehre (Carl Menger), indem er nicht nur nach dem subjektiven Nutzen eines Gutes für den wirtschaftlichen Akteur fragt, sondern auch nach den psychologischen Voraussetzungen menschlichen Verhaltens. Im Anschluss an David Hume versteht er „Die sensorische Ordnung“ (1952) des Menschen als ein adaptives System, das laufend Impulse aufnimmt, speichert, verarbeitet, klassifiziert – und dabei permanent Anpassungsleistungen vollbringt.

Eindrücke und Erfahrungen, aber auch bewusstlos-gewusste Traditionen und Gebräuche formieren sich zu einer subjektiven Wahrnehmung, die Hayek sich als kontinuierlichen, ungeplanten und offenen Prozess vorstellt. Kurzum: Die Perzeption der Welt ist subjektiv, adaptiv und evolutionär – und weil das so ist, kann Hayek nichts mit makroökonomischen Modellen anfangen,in denen mit Aggregatgrößen und Kollektiveinheiten operiert wird.

Stattdessen findet Hayeks sensorische Ordnung ihre wirtschaftswissenschaftliche Entsprechung in einer Art „methodologischen Mikroökonomie“. Hayek versteht die gesellschaftliche Ordnung als spontanen, ungesteuerten, interpersonellen Entwicklungsprozess, in dem unendlich viele Menschen unendlich viel ausprobieren, entwickeln, modifizieren und aussondern. Geld, Recht und Sprache etwa seien als Früchte des Fortschritts zwar das Ergebnis menschlichen Handelns, nicht aber das Ergebnis planvoller Vernunft.

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