Wer gedacht hatte, dass die Kleine Geschichte der Corona-Ministerpräsidentenkonferenzen längst abgeschlossen werden könnte, wurde vergangen Woche in der Nacht von Montag auf Dienstag eines Besseren belehrt. Da fügten die sechszehn Landeschefs mit der Bundeskanzlerin dem Ganzen noch ein bestürzendes Kapitel hinzu. „Chapeau-Papiere“ werden Zusammenfassungen solcher Runden im Regierungszirkel normalerweise genannt. Doch nach Chapeau ist außerhalb der Videokonferenzen niemandem mehr zumute. Und normal ist schon gar nichts. Selbst den Wohlmeinenden fehlt mittlerweile die Kraft, den Sinn hinter den Zeilen zu erkennen, geschweige denn ihn zu erklären. Kontrollverluste auf offener Bühne.
Der föderale Lenkungskreis der 17 hatte noch im Oktober, November vergangenen Jahres gedacht, die deutsche Musterschülerposition nach der ersten Welle ließe sich mühelos verteidigen. Das stellte sich als eine fatale Fehleinschätzung heraus. Seitdem wird Sitzung um Sitzung der eigenen Zögerlichkeit weiter zögerlich hinterheramtiert. Bürger und Bürgermeister, Wissenschaftler wie Ökonomen hingegen: sie alle überbieten sich mittlerweile an eigenen Vorschlägen und Ehrgeiz – und an Entgeisterung, bisweilen sogar Sarkasmus.
Zu Beginn der Pandemie, vielleicht erinnert sich noch jemand, hatten kluge Köpfe das Bild vom Hammer und Tanz eingeführt: als Metapher für eine flexible, nachhaltige und wirksame Strategie gegen das Virus. Für den Tanz hat sich die Führung der Bundesrepublik nie richtig zurecht gemacht. Nun bleibt wohl weiterhin nur der fette Holzhammer. Denn obwohl sie an manchen Orten der Republik, in Tübingen etwa oder in Rostock, ein durchgetestetes Leben mit Corona proben – wenige Tage vor Ostern sieht es trotzdem eher danach aus, als ob bald der nächste bundesweite Lockdown folgt. Ja, angesichts der Infektionszahlen: folgen muss.
Bleibt die bange Frage, ob wenigstens die Wirtschaftshilfen nun endlich alle im nötigen Umfang ankommen? Ob die Selbstständigen und noch Betriebe noch da sind, wenn es wieder aufwärts gehen soll? Die Zweifel daran wollen nicht verstimmen, aller Beteuerungen und Pressemitteilungszahlen von den Auszahlungsstellen zum Trotz. Und in der Bundesregierung wird über neue Maßnahmen und Anpassungen auch längst nachgedacht.
Womit wir beim Wirtschaftsminister wären. Der viel gescholtene Peter Altmaier (CDU) will in dieser Woche ein weiteres Mal in die Offensive gehen, zum zweiten Mal Wirtschaftsvertreter und Verbände virtuell zu einem Gipfel treffen. Als er vergangen Woche vor die Presse trat, war von der Seelenruhe, die der Saarländer in den vergangenen Pandemiemonaten meist zur Schau stellte, jedenfalls nichts mehr übrig. Von einem „beispiellosen Kraftakt“ sprach Altmaier, der erforderlich sei, um eine dritte Welle zu brechen, die sonst alles bisherig gekannte „in den Schatten“ stellen könnte. So düster, so erschütterbar klang er bislang nicht.
Ungeduld und Furcht, wohlgemerkt: ökonomisch wie politisch, sind mittlerweile auch in den eigenen Unionsreihen nicht mehr zu übersehen – und sie werden auch nicht mehr damit zu lindern sein, dass an der einen oder anderen Schraube ein bisschen nachjustiert wird.
Im ersten Quartal werde es für die Bundesrepublik in jedem Fall nochmal „ein dickes Minus geben“, ist sich Carsten Linnemann, der Chef der Unions-Mittelstandsvereinigung MIT sicher. „Für die Politik heißt es umso mehr, dass sie zwei Dinge endlich liefern muss: Erstens viel mehr Tempo beim Impfen und Testen für ein schnelles Ende des Lockdowns. Zweites jetzt schon ein Konzept, mit dem die Wirtschaft danach wieder durchstarten kann“, sagte er der WirtschaftsWoche.
Linnemanns Parteifreunde Altmaier und auch Jens Spahn, der Gesundheitsminister, dürften sich hier besonders angesprochen fühlen. Mehr noch: „Anders als beim Konjunkturprogramm 2020“, mahnt Linnemann, „muss das Programm 2021 viel mehr strukturelle Reformen enthalten, die uns langfristig nach vorne bringen - allen voran eine kluge Steuerreform und eine radikale Staatsreform.“
Steuerreform? Staatsreform? Aus den Worten Linnemann spricht auch eine Form der Entgeisterung. Darüber, dass die Union in den vergangenen Monaten den Nimbus einbüßte, die Partei der guten Krisenmanager zu sein; die Partei, die den Deutschen verlässlich zu viel Schaden und Zumutung von Leibe hielt. Verlässlich, das ist sie nicht mehr. Und Krisenmanager? Altmaier, Spahn, auch Angela Merkel und Ursula von der Leyen hängt dafür eine zu lange Liste an Verfehlungen an. Das Ergebnis: ein drohender dritter Lockdown.
Folgt man Linnemann, dann müsste die Union dringend eine tief verschüttete Eigenschaft hervorkramen: Reformlust. „Der Aufschwung wird durch den Lockdown vertagt, auch weil wir ein effektives Corona-Management und radikale Strukturreformen immer wieder vertagt haben“, unterstreicht der MIT-Chef. „Damit muss jetzt Schluss sein.“
Ob der noch nicht terminierte Gipfel Altmaiers in dieser Woche aber einen solchen Durchbruch bringen wird – höchst unwahrscheinlich. Krisen hat der treue heutige Wirtschaftsminister an der Seite Merkels zwar viele erlebt. Er bugsierte für seine Kanzlerin den abrupten Atomausstieg durchs Parlament, boxte die Griechenlandrettung gegen alle Widerstände in der eigenen Fraktion mit durch, managte die Flüchtlingskrise. Doch Corona stellt selbst für ihn eine eigene Kategorie dar. An Corona könnten sie alle scheitern.
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