
Es ist „the same procedure as every year“: Zum Jahreswechsel haben die Ökonomen den Blick nach vorn gerichtet und ihre Konjunkturaussichten für das neue Jahr präsentiert. Auch wenn die Schätzwerte auf die Nachkommastelle genau angegeben werden, haftet ihnen eine hohe Unsicherheit an – und seit den Terroranschlägen von Paris und Istanbul sind sie noch unberechenbarer geworden. Das geopolitische Risiko für die Wirtschaft, schreiben die Volkswirte der Citigroup in ihrem aktuellen Jahresausblick, sei derzeit so hoch wie seit 25 Jahren nicht mehr.
Umso erstaunlicher ist es, wie wenig sich die neue Gefährdungslage konkret in den Schätzwerten für Konsum, Investitionen und Wachstum niederschlägt. In ihrer Ratlosigkeit greifen Ökonomen gern auf die Vergangenheit zurück: Die 9/11-Anschläge in den USA hätten der Wirtschaft nicht nachhaltig geschadet, so der Tenor, sondern das US-Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur zeitweilig um einen halben Prozentpunkt sinken lassen. Nach den Anschlägen auf die Londoner U-Bahn im Juli 2005 sei die britische Wirtschaft im selben Quartal sogar um 0,8 Prozent gewachsen. Eine Studie des Internationalen Währungsfonds kommt anhand der Analyse von Steuerdaten zu dem Schluss, dass sich Anschläge kaum auf die Steuereinnahmen eines Landes auswirken – mithin auch nicht auf Konsumenten und Unternehmen.
Das bedeuten die Anschläge in Paris für Deutschland
Die Bundespolizei schickt verstärkt Einsatzkräfte an die Grenze zu Frankreich, intensiviert Streifen an Flughäfen und Bahnhöfen. Die Polizisten patrouillieren dort mit Schutzwesten und schweren Waffen. Verbindungen von und nach Frankreich werden besonders in den Blick genommen.
Nach einem Anschlag in einem Nachbarland setzt sich bei Polizei und Geheimdiensten in Deutschland hinter den Kulissen automatisch eine Maschinerie in Gang: Die Behörden checken, ob es mögliche Verbindungen und Kontakte der Täter nach Deutschland gibt. Sie sprechen dazu mit den V-Leuten in der Islamisten-Szene, durchforsten Foren und Netzwerke im Internet. Und sie überwachen besonders die islamistischen „Gefährder“ - also jene, denen sie einen Terrorakt zutrauen. Aber auch Rechtsextremisten, die auf die Anschläge reagieren könnten, stehen unter besonderer Beobachtung.
Belastbare Erkenntnisse dazu gab es zunächst nicht, aber einen ersten Verdacht: In Oberbayern wurde am Donnerstag vor einer Woche auf der Autobahn zwischen Salzburg und München ein Autofahrer angehalten und kontrolliert. Schleierfahnder der Polizei entdeckten im Kleinwagen des 51-Jährigen unter anderem mehrere Kalaschnikow-Gewehre, Handgranaten sowie 200 Gramm TNT-Sprengstoff. „Es gibt einen Bezug nach Frankreich, aber es steht nicht fest, ob es einen Bezug zu diesem Anschlag gibt“, sagt de Maizière. Auf dem Navigationsgerät des Mannes habe man eine Adresse in Paris gefunden. Ob das einen Zusammenhang zur Anschlagsserie bedeute, sei noch unklar. Der Verdächtige, der aus Montenegro stammt, sitzt in Untersuchungshaft.
Als Reaktion auf die Terroranschläge in Paris werden in Deutschland die Sicherheitsmaßnahmen hochgefahren. Es werde in den nächsten Tagen eine für die Bürger sichtlich erhöhte Polizeipräsenz geben, kündigte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) am Samstagabend (14. November) in der ZDF-Sendung „Maybrit Illner Spezial“ an. „Die Polizei, die man sieht, wird auch etwas anders aussehen als bisher. Die Ausrüstung wird eine andere sein.“ Zugleich werde zusammen mit den Nachrichtendiensten die Beobachtung islamistischer Gefährder intensiviert.
Bislang gingen bei Polizei und Geheimdiensten etwa 100 Hinweise auf mögliche Terroristen ein, die auf diesem Weg ins Land gekommen sein sollen. Davon habe sich der Verdacht bisher aber in keinem einzigen Fall bestätigt, heißt es aus Sicherheitskreisen. „Aber man darf den IS nicht unterschätzen“, meint der Terrorexperte Rolf Tophoven. „Die Gefahr ist nicht auszuschließen. Unsere Sicherheitsbehörden können nicht jeden kontrollieren.“
Nach Einschätzung von Fachleuten dürften Terroristen eher auf anderem Weg versuchen, nach Deutschland zu kommen - etwa mit gefälschten Papieren im Flieger. Polizei und Geheimdienste beobachten allerdings, dass Islamisten versuchen, junge Flüchtlinge, die schon in Deutschland sind, zu rekrutieren. Generell gilt aber: Attentäter müssen nicht unbedingt von außen ins Land gebracht werden. Es gibt viele Fanatiker, die sich im Inland radikalisiert haben.
Mehr als 43.000 Menschen gehören insgesamt dazu. Die Szene ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen - vor allem durch den starken Zulauf bei den Salafisten, einer besonders konservativen Strömung des Islam. Rund 7900 Salafisten gibt es inzwischen. Polizei und Geheimdienste stufen viele Islamisten als gefährlich ein: Etwa 1000 Menschen werden dem islamistisch-terroristischen Spektrum zugeordnet. Darunter sind 420 „Gefährder“.
Zum Teil sind auch Rückkehrer aus Dschihad-Gebieten darunter. Diese machen den Sicherheitsbehörden große Sorgen, weil viele radikalisiert und kampferprobt zurückkommen. Von den mehr als 750 Islamisten aus Deutschland, die bislang Richtung Syrien und Irak ausgereist sind, ist ein Drittel wieder zurück - also rund 250 Leute. Etwa 70 davon haben Kampferfahrung gesammelt.
Terror beeinflusst Konsum- und Investitionsverhalten
Die ökonomischen Risiken des Terrorismus sind schwer zu kalkulieren, aber womöglich doch größer, als es BIP-Zahlen suggerieren. Vieles hängt davon ab, welche Erwartungen sich bei Haushalten, Unternehmen und Staat über die Zukunft herausbilden. Nach den Erkenntnissen der Wissenschaft haben Erwartungen eine zentrale Steuerungswirkung darauf, wer wie viel in einer Volkswirtschaft konsumiert und investiert. Tim Krieger, Ökonom und Terrorismusforscher an der Universität Freiburg, glaubt daher, dass es vor allem auf die Frequenz von Anschlägen ankommt. „Werden wir in Europa häufiger attackiert, werden die Leute beim Konsum zurückhaltender, und Unternehmen dürften Investitionen verschieben“, so Krieger.
Es gibt dafür historische Beispiele: Im Baskenland brach die Wirtschaftsleistung in den Achtziger- und Neunzigerjahren um zehn Prozentpunkte pro Dekade ein – eine Reaktion auf die andauernden Anschläge der Separatistenorganisation Eta. Nordirland, das im gleichen Zeitraum unter Anschlägen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) litt, überlebte ökonomisch nur durch Transfers aus London. Die Regierung pumpte Subventionen in die Region, die um ein Dreifaches über der Förderung anderer Landesteile lagen. Dennoch gingen Zehntausende Jobs verloren.
Verschiebungen im Staatshaushalt
Neben der Frequenz ist die Größenordnung von Anschlägen ein Faktor, der ökonomisch unkalkulierbar bleibt: Paris und die 9/11-Anschläge waren schlimm genug. Doch es könnte noch härter kommen: Frankreichs Premierminister Manuel Valls warnte wenige Tage nach den Pariser Attentaten vor der Gefahr eines Chemiewaffenanschlags durch den „IS“. Chemische oder biologische Attentate haben das Potenzial, eine Volkswirtschaft massiv zu destabilisieren. Ökonomisch schwer wiegt darüber hinaus, dass nun öffentliche Gelder in die innere Sicherheit fließen, die anderswo fehlen: „Als Erstes trifft es die öffentlichen Investitionen – der einzige Posten im Bundeshaushalt, der noch halbwegs flexibel ist“, sagt Krieger. Statt in Bildung oder Forschung zu investieren, gebe die Regierung nun dreistellige Millionenbeträge für Tornado-Einsätze in Syrien aus. Wie dies auf Wirtschaftsleistung, Wettbewerbsfähigkeit und Verteilungsgerechtigkeit wirke, sei wenig erforscht. Krieger glaubt aber, dass hier die größten ökonomischen Kosten des Terrors versteckt liegen.
Zudem verursacht Terror immaterielle Kosten: Die Angst vor Anschlägen unterhöhlt unsere Lebenszufriedenheit und das „Bruttosozialglück“ einer Volkswirtschaft. Der Schweizer Ökonom und Verhaltensforscher Bruno Frey hat dies bereits 2009 in einer Studie analysiert. Er nahm Nordirland in den Jahren 1975 bis 1998 zum Ausgangspunkt und befragte Einwohner, wie viel sie zu zahlen bereit gewesen wären, um sich Frieden zu erkaufen. Die Antwort: 37 Prozent ihres Einkommens. Frey bezog auch Frankreich in seine Untersuchung mit ein: 2009 war ein Pariser bereit, acht Prozent seines Einkommens zu zahlen, um Terroranschläge zu verhindern.
Seit dem 13. November dürfte die Zahl deutlich höher sein.