Weltwirtschaft „Entscheidend ist, ob die Wirtschaft in den nächsten Jahren kräftig genug wächst“

Weltwirtschaft: „Auch in Europa wird der Preisdruck zunehmen“ Quelle: Bloomberg

Der Chefökonom der US-Bank JP Morgan, Bruce Kasman, warnt: Treiben die Lieferengpässe die Preise weiter nach oben, könnten die Notenbanken gezwungen sein, die Leitzinsen kräftig anzuheben. Die nächste Rezession könnte dann schneller kommen als vermutet.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

WirtschaftsWoche: Herr Kasman, die Teuerungsraten haben sich weltweit beschleunigt. Steht die Weltwirtschaft vor einer neuen Ära der Inflation? 
Bruce Kasman: Bei der Preisentwicklung müssen wir zwischen pandemiegetriebenen und fundamentaleren Faktoren unterscheiden. Kurzfristig hat sich die Weltwirtschaft nach der ersten Corona-Welle kräftig erholt, wobei sich ein Teil der gesamten Nachfrage von den Dienstleistungen auf die Waren verschoben hat. Zugleich hat die Pandemie Produktionsengpässe entstehen lassen. Der Nachfrageüberhang hat die Preise in die Höhe getrieben. Wir sollten diesen Preisanstieg jedoch nicht weit in die Zukunft extrapolieren. Denn er ist das Ergebnis einer verschärften Knappheit, die nach und nach verschwinden dürfte. 

Und was sind die fundamentalen Faktoren für die Inflation?
Hier sind drei Faktoren maßgeblich. Erstens kommt der private Sektor mit gesunden Bilanzen aus der Coronakrise. Die privaten Haushalte haben dank hoher staatlicher Transfers enorme Ersparnisse gebildet. Das spricht für hohe Konsumausgaben. Zudem sind die Finanzierungsbedingungen für die Unternehmen exzellent, was die Investitionen anregt. Zweitens altern die Bevölkerungen in den Industrieländern, die USA und Großbritannien haben darüber hinaus ihre Einwanderungsregeln verschärft. Arbeitskräfte werden knapper und teurer. Drittens sind die Geld- und Fiskalpolitik in den meisten Ländern sehr expansiv ausgerichtet und dürften wachstumsorientiert bleiben. Das stimuliert die Nachfrage und treibt die Preise, zumal die Zentralbanken höhere Inflationsraten tolerieren als das früher der Fall war. 

Mit welchen Inflationsraten rechnen Sie auf Sicht der nächsten Jahre?
In den vergangenen zwanzig Jahren beliefen sich die Teuerungsraten in den USA im Schnitt auf knapp zwei Prozent, in der Eurozone auf etwa 1,5 Prozent. Ich kann mir vorstellen, dass die Inflationsraten in beiden Währungsräumen auf Sicht der nächsten Jahre um 0,5 bis 0,75 Prozentpunkte höher ausfallen. 

Bruce Kasman ist Chefökonom der US-Bank JP Morgan. Quelle: Privat

An zweistellige Inflationsraten wie in den Siebzigerjahren glauben Sie nicht? 
Nein, anders als damals werden die Zentralbanken die Teuerung nicht aus dem Ruder laufen lassen. Die US-Notenbank Fed hat bereits klar gemacht, dass sie rascher aus der ultraexpansiven Geldpolitik aussteigen will. Ich sehe eher die Gefahr, dass die Zentralbanken überreagieren und die Konjunktur abwürgen. 

Auf welche Niveaus wird die Fed die Leitzinsen in dem nun anstehenden Straffungszyklus anheben?
Geldpolitische Zyklen verlaufen nicht immer linear, zuweilen muss eine Zentralbank eine Zinserhöhung zurücknehmen und die Zinsen später dann doch wieder anheben. Der erste Höhepunkt für den US-Leitzins könnte im aktuellen Zinszyklus zwischen 2,0 und 3,0 Prozent liegen. 

Von der EZB gibt es bisher kein Zeichen einer monetären Straffung. Das Pandemie-Notfallprogramm soll im Frühjahr zwar auslaufen, höhere Leitzinsen aber sind nicht in Sicht. 
In den vergangenen Jahren hat die EZB ihr Inflationsziel deutlich stärker unterschritten als die Fed. Außerdem fällt die Inflationsprognose der EZB für die nächsten Jahre niedriger aus. Das hat mit der unterschiedlichen Lage auf dem Arbeitsmarkt zu tun. Der US-Arbeitsmarkt läuft heiß, die Lohnkosten steigen rasant. Ähnliches ist in der Eurozone noch nicht zu beobachten. Dazu kommt, dass die Corona-Pandemie die Konjunktur in Europa im Winterhalbjahr stärker zu bremsen scheint als in den USA. 



Also müssen wir uns auf ewige Nullzinsen in Europa einstellen? 
Nein, nichts ist ewig. Auch in Europa wird der Preisdruck zunehmen. Ich erwarte, dass die Fed im Frühsommer nächsten Jahres damit beginnt, den Leitzins zu erhöhen. Die EZB wird vermutlich Ende 2022, Anfang 2023 folgen. Das begrenzt das Aufwertungspotenzial für den Dollar. Der Wechselkurs des Euro dürfte nächstes Jahr nur leicht auf 1,09 Dollar nachgeben. 

Hat die EZB angesichts der hohen Staatsschulden von Ländern wie Italien und Griechenland überhaupt Spielraum, die Zinsen zu erhöhen? 
Wenn die Wirtschaft in der Währungsunion wächst, gibt das der EZB Spielraum, die Zinsen trotz der hohen Staatsschulden anzuheben. Das ist auch der Hintergrund, warum die Regeln des Stabilitätspakts in näherer Zukunft vermutlich nicht angewendet werden. Ein Sparkurs könnte das Wachstum abwürgen und der EZB damit den Spielraum nehmen, die Zinsen zu erhöhen. Ich gehe davon aus, dass die Impulse, die von der sich stabilisierenden Weltwirtschaft und dem Europäischen Wiederaufbaufonds ausgehen, die Wirtschaft in der Eurozone solide wachsen lassen und so ein Umfeld schaffen, in dem die EZB die geldpolitischen Zügel straffen kann.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%