Wirtschaftsphilosoph Rahim Taghizadegan „Nullzinsen führen uns in die Schuldknechtschaft“

Rahim Taghizadegan. Quelle: PR

Bedrohen die Nullzinsen den gesellschaftlichen Frieden? Der Wiener Wirtschaftsphilosoph und Bestsellerautor Rahim Taghizadegan warnt vor gesellschaftlichen Deformationen.

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Rahim Taghizadegan ist der letzte Vertreter der Österreichischen Schule der Ökonomik in direkter Linie in Österreich und leitet das Scholarium in Wien. Er lehrt an mehreren Universitäten, ist mehrfacher Bestsellerautor und gefragter Redner. Zu seinen Veröffentlichungen zählen „Die Nullzinsfalle“, „Österreichische Schule für Anleger“ und „Helden, Schurken, Visionäre“ (zum Unternehmertum auf verzerrten Märkten).

WirtschaftsWoche: Herr Taghizadegan, in den Industrieländern nähern sich die Zinsen der Marke von null Prozent an oder haben diese bereits unterschritten. Ökonomen sind uneins über die Gründe. Während manche dafür eine Sparschwemme und eine technologisch bedingt schwache Nachfrage nach Kapital verantwortlich machen, sehen andere die expansive Geldpolitik der Notenbanken als Grund für die Nullzinsen. Wer hat Recht?
Rahim Taghizadegan: Der Grund liegt mehr im sogenannten Sperrklinkeneffekt als in bewusster Absicht der Notenbanken: Spätere Zinserhöhungen werden mit jeder Zinssenkung sukzessive schmerzhafter, das bedingt eine Asymmetrie – bergab geht es leichter als bergauf. Je höher die Verschuldung und Zeitpräferenz und je dominanter der Staat, desto mehr Interessensgruppen profitieren von Zinssenkungen.

Die weltweite Konjunktur hat sich deutlich abgeschwächt, Deutschland droht eine Rezession. Sind Nullzinsen die richtige Antwort, um die Konjunktur wieder flott zu bekommen?
Nullzinsen an sich sind nicht ausreichend. Für die beliebte Art kurzfristiger Konjunktur-Ankurbelung, die langfristig die Wirtschaft verzerrt und daher die nächste Konjunkturankurbelung nötig machen wird, bräuchte es eine weitere Zinssenkung – stärker als es der Markt erwartet, also in Richtung Negativzinsen.

Der Nullzins der EZB bestimmt die Wirtschaftspolitik in Europa – mit verheerenden Folgen für Sparer, Banken, Unternehmen und die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft.
von Benedikt Becker, Malte Fischer, Martin Gerth, Dieter Schnaas, Christof Schürmann, Cornelius Welp

Einige Ökonomen fordern, die Nullzinsen für kreditfinanzierte staatliche Konjunkturprogramme zu nutzen, da sie den Staat nichts kosten.
Ökonomen leben hauptsächlich davon, Alibis für Interessensgruppen, allen voran staatsnahe, zu produzieren. Mit der Realität haben ihre Prognosen, wie empirisch über jeden Zweifel hinaus nachgewiesen ist, wenig zu tun. Der Vorschlag ist typisch für den Kapitalkonsum unserer Zeit: Kaufkraftverschiebung von den Sparern und wirklichen Unternehmern hin zu ahnungslosen Akademikern, planlosen Planern und subventionierten Unternehmerschauspielern.

Die EZB argumentiert, auch die Sparer profitierten von den Nullzinsen, weil diese die Konjunktur stabilisierten und ihre Arbeitsplätze sicherer machten. Zudem stiegen ihre Vermögenswerte wie Immobilien und Aktien.
Es profitieren jene wenigen Sparer, die Eigentum an aufgeblähten Vermögenswerten aufbauen konnten und die künstliche Volatilität überstehen – wie viele das sein werden, können wir erst nach der nächsten Korrektur sagen. Auch dann erst lässt sich eine Aussage über Konjunktur und Arbeitsplätze wagen.

In Ihrem aktuellen Buch „Die Nullzinsfalle“ kritisieren Sie, Nullzinsen führten zu gesellschaftlichen Deformationen. Können Sie das näher erläutern?
Ein Nullzins markiert den Punkt, an dem Zukunft und Gegenwart ökonomisch nicht mehr zu differenzieren sind. Das begünstigt den Vorgriff auf die Zukunft, der aber nicht mehr durch nachhaltige Wertschöpfung gedeckt ist. Phänomene der Kurzfristigkeit breiten sich in Gesellschaft und Politik aus. Die Dynamiken sind überraschend komplex. In unserem Buch bieten wir für eine ganze Fülle gesellschaftlicher und politischer Phänomene originelle Erklärungen, die viele der Polarisierungen der Gegenwart nüchtern und ideologiefrei verständlich machen. Zu den gesellschaftlichen Deformationen, die sich unter den Bedingungen des Nullzinses bilden, gehören neben der wachsenden Ungleichheit, dem allfälligen Vertrauensverlust auch der Mangel an Nachhaltigkeit im wirtschaftlichen und sozialen Verhalten sowie eine um sich greifende Schuldknechtschaft.

„Die Nullzinsfalle“ erschien im April 2019 im FinanzBuch Verlag. Quelle: PR

Was meinen Sie mit Schuldknechtschaft?
Wer hoch verschuldet ist, gerät unter Druck, sein gesamtes Handeln auf die Bedienung der Schulden abzustellen. Das fördert die wirtschaftliche Abhängigkeit, etwa vom Arbeitgeber, und mündet in gesellschaftlichem Mitläufertum. Kritiker dieser Entwicklungen romantisieren häufig die Vergangenheit, erkennen aber nicht, dass das Nullzinsumfeld diese Fehlentwicklungen verursacht oder verstärkt hat. Erst die ökonomische Analyse macht gegensätzliche Dynamiken, „Trade-offs“, Spannungen, Überdehnungen und Gegenreaktionen verständlich und könnte damit einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden leisten – der potenziell das größte Opfer der Nullzinspolitik ist.

Können Kapitalismus und Marktwirtschaft mit Nullzinsen überhaupt funktionieren?
Nur, wenn diese das Ergebnis realer Präferenzen wären. Nullzinsen und Negativzinsen machen deutlich, wie wenig die Geldpolitik mit Marktwirtschaft zu tun hat, sie sind allerdings bloß eine besonders auffällige Etappe der schon lange geschraubten Interventionsspiralen.

Gibt es Auswege aus der Nullzinsfalle?
Ein Rückweg ist schmerzhaft, ein Weitergehen verzerrt die Wirtschaft noch mehr und vergrößert künftige Schmerzen. Ein zentralplanerisches Allheilmittel, das niemandem weh tut, gibt es nicht. Auswege gibt es für Anleger und souveräne Staaten. Politisch am vernünftigsten wäre, alles zu tun, die Lernfähigkeit und Resilienz der Gesellschaft wieder zu erhöhen, etwa indem behutsam wieder mehr Wettbewerb, Kostenwahrheit und Eigenverantwortung im Bereich des Geldes und der Anlage zugelassen werden.

Auf welche Entwicklungen müssen wir uns in den nächsten Jahren einstellen?
Die Tendenz wird wohl in Richtung Verbindung von Geldpolitik und Finanzpolitik gehen – mit weiterem Drehen an der Interventionsspirale. Zum Glück gibt es nicht nur eine Notenbank und Regierung in der Welt.

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