Wirtschaftswissenschaft Abrechnung mit dem Homo oeconomicus

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Shiller begründet diesen Überschwang unter anderem mit Herdenverhalten: „Menschen folgen der Mehrheitsmeinung, auch wenn sie allen offensichtlichen Fakten widerspricht“. Sie tun dies aufgrund der verschiedensten psychologischen und sozialen Verhaltensmuster, etwa des sogenannten Feedback-Mechanismus: Wenn Preise spekulativ nach oben gehen und Investoren Gewinne erzielen, ziehen sie Aufmerksamkeit auf sich. An den Märkten setzt Mundpropaganda ein, Informationskaskaden entstehen, bei denen bestimmte Informationen dominieren und sich immer weiter ausbreiten. Mehr und mehr Investoren erzielen Kursgewinne, Enthusiasmus macht sich breit, die Marktteilnehmer stecken sich gegenseitig an („Contagion“). Die höhere Nachfrage lässt die Preise weiter steigen, eine Preisblase entwickelt sich, bis die Stimmung umschlägt und die Blase platzt. Auch vollständig rationale Menschen können sich diesem Herdenverhalten nicht entziehen, sagt Shiller.

Sekundenschneller Informationsaustausch verstärkt Herdentrieb

Die Revolution in der Informationstechnologie sieht Shiller vor diesem Hintergrund ambivalent. Der sekundenschnelle Austausch von Informationen könne Herdenverhalten und Blasenbildung verstärken. Schon das Telefon habe in den Zwanzigerjahren die Volatilität der Finanzmärkte erhöht und so den Börsencrash von 1929 mitbeeinflusst, glaubt er. Heute sind im Hochfrequenzhandel der Aktienmärkte die Orderspannen auf Millisekunden zusammengeschrumpft.

Shillers „Irrational Exuberance“ wurde ein Bestseller. Doch die Wirtschaft erholte sich nach der Rezession von 2002/03 überraschend schnell, Begriffe wie Blase oder Herdentrieb waren rasch vergessen, und Shiller musste sich des Kollegen-Spotts erwehren. Der Ökonom blieb gleichwohl skeptisch: Der Case-Shiller-Häuserpreisindex, den er 1991 mit seinen Kollegen Karl Case und Allan Weiss entwickelt hatte, zog in den Folgejahren stark an. Schon 2005 warnte Shiller, dass die Immobilienpreise fundamental nicht gerechtfertigt seien. Im Sommer 2007 brach der US-Häusermarkt zusammen und löste die weltweit schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit den Dreißigerjahren aus.

Shiller durfte sich bestätigt fühlen, doch mit seiner Popularität wuchs auch die Kritik. An 100 Einzelphänomenen werde gezeigt, warum Menschen und Märkte irrational oder ineffizient seien, aber bis heute fehle es an einer konsistenten Theorie, bemängelt der US-Ökonom Eugene Fama, ein einflussreicher Vertreter der Effizienzmarkthypothese. Ein Flickenteppich also statt eines stichhaltigen neuen Denkansatzes? „Ein typischer Aufsatz [von Verhaltensökonomen] ist schwammig und schrecklich lang. Einfache Ideen gehen in schlecht formulierten Modellen und Zahlenbeispielen unter“, kritisiert der Spieltheoretiker Ariel Rubinstein. „Wir sollten die Reichweite unserer Forschung erhöhen – aber nicht dadurch, dass wir unsere Standards senken.“

Shiller bleibt angesichts der Kritik gelassen. Dass ein junger Zweig wie die Verhaltensökonomie Fehler mache, sich immer wieder korrigiere und von einer einheitlichen Theorie entfernt sei, liege in der Natur der Sache. Aber das, sagt er, sei noch lange kein Grund, aufzugeben und sich auf die alten Positionen zurückzuziehen.

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