Wirtschaftswissenschaft in der Kritik Ökonomen, werdet wahrhaftige Wissenschaftler!

Seite 4/4

Kann Wirtschaftswissenschaft wahrhaftig sein?

Die Beispiele weisen auf den Kern vieler Krisenerscheinungen der Gegenwart: sie sind systembedingt. Sie erfordern zu ihrer Überwindung Korrekturen, wenn nicht gar gravierende Änderungen des etablierten Wirtschaftssystems. Das ist politisch hochbrisant – und es erfordert Ökonomen als Ideengeber und Berater der Politik, die nicht von Dogmen und Machtinteressen geleitet sind. Dazu müssen die Wirtschaftswissenschaften zu allererst eine Pluralität von Forschungsansätzen innerhalb ihrer eigenen Disziplin zulassen. Die Einseitigkeit, mit der unsere Wirtschaftswissenschaftler zuweilen ihren althergebrachten Paradigmen samt ihrer mathematiklastigen Methodik verhaftet sind, hat in den letzten Jahrzehnten gewiss nicht zur dringend benötigten Öffnung des Denkhorizonts beigetragen.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Wenn Wirtschaftswissenschaft ohne Machtinteressen betrieben wird, darf die  politische Anschlussfähigkeit kein ausschlaggebendes Kriterium für die Erarbeitung wirtschaftspolitischer Lösungsansätze sein. Die politische Verwertbarkeit der Wirtschaftswissenschaft im Sinne einer praktikablen Anwendung von Forschungsresultaten ist zuvorderst ein Problem der Politik selbst, nicht eines der Wissenschaft. Das Ideal sollte eine wahrhaftige Wissenschaft sein, die den politischen Entscheidungsträgern, den Medien und der interessierten Öffentlichkeit ihr ganzes Wissen unverblümt zur Verfügung stellt. Was die Adressaten dann damit anfangen, bleibt ihnen überlassen. Es obliegt den Bürgern und deren politischen Repräsentanten, dasjenige aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Empfehlungen herauszugreifen, was ihnen beliebt.

Sollten sie dabei wahre Erkenntnisse und wirksame Ratschläge zugunsten politisch opportuner Wirtschaftspolitiken verdrängen, ist das in einer Demokratie ihr gutes Recht. Ein mögliches Scheitern jener Maßnahmen könnten sie dann aber nicht länger den beratenden Ökonomen ankreiden. Das Versagen der Politik läge nunmehr allein in ihrer eigenen Verantwortung. Und hierin liegt der wesentliche und wichtigste Unterschied zur heutigen Situation: Derzeit haben Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger noch nicht einmal die Möglichkeit, sich anders als falsch zu entscheiden, weil die meisten Wirtschaftswissenschaftler ihnen kein klares und kein zutreffendes, sondern ein ideologisch verengtes und verzerrtes Bild der sozialökonomischen Realität liefern. In diesem Sinne bleibt nur zu hoffen, dass die kommende Ökonomen-Generation den Mut aufbringen kann, die ideologischen Scheuklappen ihrer Disziplin gegen alle inneren und äußeren Widerstände aufzubrechen. Gelingt ihr das nicht, wird die Mainstream-Ökonomik wohl weiterhin dazu beitragen, den krisenhaften Status-Quo zu zementieren.

Ist die Ordnungspolitik wirklich ein Auslaufmodell – oder warum sollte man sich auch heute noch über den Walter-Eucken-Preis freuen?
von Andreas Freytag

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%