Von Alfred Nobel (1833-1896) ist ein über die Ökonomie wenig schmeichelhafter Satz überliefert. „Ich habe keine Wirtschaftsausbildung und hasse sie von Herzen“, befand der schwedische Industrielle einst. In den von ihm gestifteten Preisen war denn auch ursprünglich keine Auszeichnung der Wirtschaftswissenschaften vorgesehen. Der Preis, auf den am Montag (10. Oktober 2022) weltweit Top-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hoffen, wird daher seit 1968 von der Schwedischen Reichsbank gestiftet – und hat längst seinen festen Platz neben den klassischen Nobelpreisen für Physik, Chemie, Medizin, Literatur und Frieden. Im vergangenen Jahr gewannen die US-Ökonomen David Card, Joshua Angrist und Guido Imbens für ihre Forschung in den Bereichen Arbeitsökonomie und die Analyse wirtschaftlicher Kausalzusammenhänge. Die WirtschaftsWoche hat nachgefragt: Wer hat die höchste wirtschaftswissenschaftliche Ehrung 2022 am meisten verdient?
Veronika Grimm, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied der deutschen „Wirtschaftsweisen“:
„Ein idealer Preisträger wäre Daron Acemoglu (Massachusetts Institute of Technology). Seine Arbeiten zur Politökonomie und insbesondere zum Zusammenhang zwischen institutionellen Rahmenbedingungen und Wachstum legen wichtige Grundlagen, um über die akuten Herausforderungen unserer Zeit nachzudenken. Die Erkenntnisse aus seiner Forschung geben Zuversicht, dass freie und inklusive Gesellschaften einen komparativen Vorteil gegenüber den Autokratien haben - und Guidance, worauf es ankommt, wenn man ihn ausspielen will.“
Christoph Schmidt, Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Professor an der Ruhr-Universität Bochum, von März 2013 bis Februar 2020 Vorsitzender der Wirtschaftsweisen:
„Wir werden aus den multiplen Krisen der Gegenwart nur mithilfe massiver Innovationen entkommen können, und diese erfordern die Digitalisierung verschiedenster Lebensbereiche. Dies spricht dafür, dass in diesem Jahr bei der Vergabe des Wirtschaftsnobelpreises Ökonominnen und Ökonomen zum Zuge kommen, die das Thema Digitalisierung und Machine Learning in der Ökonomik vorangetrieben haben. Dazu zählen aus meiner Sicht vor allem Susan Athey (Stanford University) — deren Auszeichnung bedeuten würde, dass sie mit ihrem Mann Guido Imbens gleichzieht — sowie Erik Brynjolfsson (Stanford University) und Andrew McAfee (MIT).“
Klaus Zimmermann, Professor (em.) für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Bonn:
„Mein Favorit ist Oded Galor (Brown University) ist der Begründer der Unified Growth Theory, die das Entstehen von Wachstum und Ungleichheit über die gesamte Menschheitsgeschichte in einem Rahmen abzubilden versucht. Sie setzt sich dabei von der endogenen Wachstumstheorie ab, die sich nur auf die wirtschaftliche Entwicklung seit der industriellen Revolution beschränkt. Er belegt in umfangreichen empirischen Studien, dass gegenwärtiges Wachstum und Ungleichheit wesentlich sehr langfristig festliegenden Faktoren wie etwa genetischer Vielfalt und Geographie folgen. Er gibt uns in dunklen Zeiten Hoffnung, dass menschliche Vielfalt, Gleichberechtigung und Humankapital die gesellschaftlichen Institutionen schaffen, die dauerhaft gerechten Fortschritt schaffen.“
Zehn Mythen über den Nobelpreis
Richtig. Adolf Hitler wurde 1939 von dem schwedischen Abgeordneten E.G.C. Brandt für den Preis nominiert, der „Brüderlichkeit unter den Nationen“ und weltweite Abrüstung vorantreiben soll. Brandt zog die Nominierung später zurück und erklärte, sie sei satirisch gemeint gewesen. Die Episode zeigt, dass praktisch jedermann nominiert werden kann. Über die Aussichten, den Preis tatsächlich zu bekommen, sagt eine Nominierung nichts aus.
Falsch. Der Friedensnobelpreis wird, wie von Alfred Nobel verfügt, in Oslo verkündet und verliehen. Warum Nobel das so wünschte, ist nicht bekannt.
Richtig. Der Preis für Wirtschaftswissenschaften zählte nicht zu den fünf Auszeichnungen, die Alfred Nobel in seinem Testament für die Kategorien Medizin, Physik, Chemie, Literatur und Frieden forderte. Er wurde 1968 zu Ehren Nobels von der schwedischen Zentralbank gestiftet. Er wird gemeinsam mit den anderen Preisen bekanntgegeben, ist mit demselben Preisgeld in Höhe von acht Millionen schwedischen Kronen (878.000 Euro) dotiert und wird bei der jährlichen Nobelpreiszeremonie im Dezember verliehen. Doch formal ist er kein Nobelpreis. Der offizielle Name lautet „Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank“.
Richtig. Das Geschlecht spiele bei ihrer Entscheidung über die Preisträger jedoch keine Rolle, sagen die Nobel-Juroren. Das Verhältnis spiegele nur die historische Dominanz von Männern in vielen Forschungsbereichen wider.
Falsch. Seit 1974 werden von den Preiskomitees nur lebende Personen berücksichtigt. 2011 machte die Nobelstiftung allerdings eine Ausnahme: Erst unmittelbar nach der Bekanntgabe des Preises für Medizin hatte sich herausgestellt, dass einer der Geehrten, der kanadische Immunforscher Ralph Steinman, wenige Tage zuvor gestorben war. Die Stiftung beließ es bei der Entscheidung, Steinmans Anteil am Preisgeld ging an seine Hinterbliebenen.
Falsch. Die Französin Marie Curie gewann 1903 den Preis für Physik und 1911 den für Chemie. Der US-Chemiker und Friedensaktivist Linus Pauling erhielt 1954 den Nobelpreis für Chemie, acht Jahre später wurde er mit dem Friedensnobelpreis geehrt.
Falsch. Der redegewandte, konservative britische Politiker Winston Churchill erhielt zwar einen Nobelpreis, allerdings in der Kategorie Literatur. Er wurde damit 1953 „für seine meisterlichen historischen und biografischen Schilderungen sowie für brillante Rhetorik bei der Verteidigung erhabener menschlicher Werte“ ausgezeichnet.
Falsch. Die Nobelstatuten besagen, dass die Auszeichnungen unter mehreren Preisträgern aufgeteilt werden können, doch in keinem Fall „darf eine Preissumme unter mehr als drei Personen aufgeteilt werden“.
Richtig. Die Nobelstatuten sind diesbezüglich eindeutig. Wer einen Nobelpreis bekommen hat, behält ihn für immer. Paragraf 10 lautet: „Gegen die Entscheidung eines Preisgremiums dürfen keine Einsprüche bezüglich der Zuerkennung eines Preises erhoben werden.“ Online-Petitionen, die zum Entzug eines bestimmten Preises aufrufen, sind daher wirkungslos.
Falsch. Es gibt keine Obergrenze, wie oft jemand mit einem Nobelpreis geehrt werden kann. Der US-Wissenschaftler John Bardeen gewann den Preis für Physik zweimal, 1956 und 1972. Der britische Biochemiker Frederick Sanger erhielt zwei Preise für Chemie, 1958 und 1980.
Volker Caspari, Seniorprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Goethe-Universität Frankfurt:
„Den Preis sollte dieses Jahr Oded Galor (Brown University) bekommen – für seine Arbeiten zur Wachstumstheorie. Galor hat das Forschungsprogramm der „Unified Growth Theory“, angestoßen von Robert Solow, vorangetrieben und die maßgeblichen Beiträge dazu geschrieben. Er seit Jahren auch der Herausgeber des Journal of Economic Growth. Solows Ansatz gilt für die letzten 250 Jahre; die davor liegende Zeit blieb bislang theoretisch unreflektiert. Galor hat für die Malthusianische Epoche die wesentlichen Triebkräfte der zyklischen Entwicklung des BIP pro Kopf empirisch identifiziert und modelltheoretisch dargestellt. Den Übergang von der Malthusianischen Epoche zur Epoche dauerhaften Wachstums hat er ebenfalls modelliert und empirisch getestet. Dabei hat er die Rolle des Humankapitals aufgezeigt. Statt vieler Kinder (Quantität) sahen die Menschen, dass bei raschem technischen Fortschritt die Ausbildung der Kinder eine ökonomische Notwendigkeit wurde und deshalb die Zahl der Kinder abnahm, weil die Investitionen in ihre „Qualität“ drastisch zunehmen musste. Galor steht für eine gelungene Integration von wirtschaftsgeschichtlicher, ökonometrischer und wirtschaftstheoretischer Forschung, wie sie früher (Werner Sombart, Max Weber) üblich war.“
Andreas Freytag, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Jena:
„Ich würde Oded Galor (Brown University) den Preis geben. Mich beeindruckt seine Fähigkeit, die Komplexität von Wachstumsprozessen mit analytischer Präzision zu untersuchen. Die Arbeit von Galor verbindet theoretische Überlegungen auf originelle Weise mit langfristiger empirischer Forschung. Die Politikempfehlungen sind gerade für Ordnungs- und Institutionenökonomen sehr spannend, da sie auf Unterschiede in Gesellschaften Rücksicht nehmen.“
Stefan Kolev, Professor für Volkswirtschaftslehre an Westsächsischen Hochschule Zwickau:
„Ich habe zwei Favoriten: Deirdre N. McCloskey (University of Illinois at Chicago) hat mit ihren Pionierleistungen bei der Anwendung kliometrischer Methoden in der Wirtschaftsgeschichte zur quantitativen Erforschung der Industriellen Revolution entscheidende Impulse beigetragen. Ihr Werk zur Bedeutung von Rhetorik im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs hat viele Ökonomen über die Notwendigkeit rhetorischer Achtsamkeit in der sozialwissenschaftlichen Forschung und bei der Kommunikation der Forschungsergebnisse sensibilisiert. Mit ihrer Trilogie zu bürgerlicher Kultur und Tugenden hat McCloskey aufgezeigt, wie eine Kulturelle Ökonomik mit qualitativen Methoden die Entstehung der westlichen Zivilisation und ihre einzigartige Beseitigung von Armut weltweit erklären kann. Israel M. Kirzner (New York University) hat die Tradition der Österreichischen Schule weiterentwickelt und für die moderne mikroökonomische Theorie anschlussfähig gemacht. Seine Beiträge zur Rolle des Unternehmertums haben wesentlich zur Erforschung von Ungleichgewichtsprozessen auf Märkten beigetragen. In der global-digitalen Ordnung der Wirtschaft mit ihrer zunehmenden Dynamik, die oft das Ergebnis von Unternehmertum ist, ist Kirzners Theorie des kapitalistischen Marktprozesses aktueller denn je.“
Rüdiger Bachmann, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Notre Dame (Indiana, USA):
„Den Preis sollten in diesem Jahr Truman Bewley (Yale) und Hugo Hopenhayn (University of California) für ihre grundlegenden Arbeiten zur Makroökonomik heterogener Agenten erhalten. Bewley hat den theoretischen Rahmen geschaffen, der es uns ermöglicht, Haushalte, die sich unversicherbaren Einkommensschocks gegenübersehen, und deshalb unterschiedliche Einkommen, Vermögen und Konsum haben, in makroökonomischen Modellen zu analysieren. Ohne diesen Modellrahmen könnten wir heute zum Beispiel nicht verstehen, welche verteilungspolitischen Wirkungen die Geld- und Fiskalpolitik haben. Oder warum Transferzahlungen in Rezessionen inzwischen zum Mittel der Wahl in der Stabilisierungspolitik geworden sind. Hopenhayn hat dasselbe für die Produktionsseite der Wirtschaft gemacht und es uns ermöglicht, heterogene Firmen in makroökonomischen Modellen zu analysieren, die uns etwa über die Effekte von erhöhter Unsicherheit in Rezessionen aufklären.“
Monika Gehrig-Merz, Professorin für Angewandte Ökonomie an der Universität Wien:
„Ich tippe auf EINEN Preis für drei Personen, von denen jede auf ihre Art die Rolle politischer Institutionen für die Wirksamkeit makroökonomischer Politikmaßnahmen im Hinblick auf Wachstum, Verteilung und wirtschaftlicher Entwicklung untersucht hat. Dies sind Guido Tabellini (Wirtschaftsuniversität Bocconi) und Torsten Persson (Universität Stockholm) für ihre bahnbrechenden Arbeiten im Bereich der Politischen Ökonomie sowie Daron Acemoglu (MIT). Sie haben die moderne Makroökonomik um den sehr wichtigen Aspekt der Umsetzbarkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen in Abhängigkeit vom geltenden politischen System ergänzt.“
Justus Haucap, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Düsseldorf:
"Ich halte Marc Granovetter (Stanford University) für preiswürdig - für seine Beiträge zur Wirtschaftssoziologie und seine Betonung der Bedeutung sozialer Beziehungen für wirtschaftliche Transaktionen. Man könnte die Auszeichnung gegebenfalls gemeinsam mit Robert Putnam für dessen Beiträge zur Bedeutung des Sozialkapitals vergeben. Nach Daniel Kahneman (Psychologie) und Elinor Ostrom (Politikwissenschaft) wären doch eigentlich die Soziologen auch mal dran!"
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