Wissenschaft Frisst die Globalisierung die Inflation?

Weltweit wächst die Wirtschaft kräftig, die Arbeitslosigkeit sinkt auf neue Tiefstände. Trotzdem steigen Löhne und Teuerung kaum. Die möglichen Erklärungen sind zum Teil überraschend.

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Arbeitslosigkeit auf Tiefstand, Löhne steigen kaum. Quelle: imago images

Auf den Fluren der Europäischen Zentralbank (EZB) herrscht in diesen Tagen Hektik. Denn in sechs Wochen ist D-Day. Am 26. Oktober will Mario Draghi, der Chef der EZB, den Märkten erklären, wie und wann er aus der ultralockeren Geldpolitik auszusteigen gedenkt. Bis dahin müssen Analysen und Papiere vorliegen, die die Details des Ausstiegs regeln. Doch der Gedanke an den Exit ist den Währungshütern nicht geheuer. Grund: Die Inflation, die Zielgröße der EZB, kommt nicht in Schwung. Um nur 1,5 Prozent sind die Preise in der Währungsunion im August im Vorjahresvergleich gestiegen. Zu wenig, meinen die Euro-Hüter. Sie streben eine Inflation von knapp zwei Prozent an.

Auch in anderen Industrieländern sind die Notenbanker darauf erpicht, die Inflationsraten, die im Zuge der Finanzkrise eingebrochen waren, wieder hochzutreiben. Das hat nicht nur ökonomische, sondern auch politische Hintergründe: Die Regierungen brauchen dringend Inflation, um ihre gigantischen Schuldenberge real abzuschmelzen.

Das Problem ist nur: Die Strategie der Reinflationierung funktioniert nicht. Die Teuerungsraten kleben global wie Kaugummi am Boden. Dafür wiederum gibt es vor allem eine Ursache: Die Löhne, wichtigster Kostenfaktor für die Unternehmen und entscheidender Preistreiber, kommen nicht in Schwung. Und das, obwohl die Arbeitslosigkeit weltweit sinkt. In der Euro-Zone wachsen die Löhne derzeit nur um 1,5 Prozent, also nur halb so schnell wie vor der Finanzkrise. Dabei hat die Arbeitslosenquote mit 9,1 Prozent fast wieder das Vorkrisenniveau von 8,7 Prozent erreicht. In den USA ist die Quote mit 4,4 Prozent sogar unter das Niveau vor der Krise gefallen. Die Stundenlöhne aber wachsen aktuell nur um 2,5 Prozent.

Arbeitslosenquoten und Lohnzuwachsraten im Vergleich

Ökonomen stehen vor einem Rätsel. Bisher galt es als eine Art Naturgesetz, dass die Löhne steigen, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Erkenntnis stammt von dem britischen Statistiker Alban Phillips. Anhand von historischen Daten für Großbritannien hatte Phillips 1958 herausgefunden, dass Arbeitslosenquote und Lohnwachstum negativ miteinander verknüpft sind. Er erklärte dies damit, dass eine bessere Lage auf dem Arbeitsmarkt die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer stärkt, sodass sie höhere Löhne für sich herausschlagen können. Die sogenannte Phillips-Kurve findet sich seither als Basiswissen in vielen volkswirtschaftlichen Lehrbüchern.

Seit der Finanzkrise aber „scheint die Phillips-Kurve zusammengebrochen zu sein“, sagt der Harvard-Ökonom Larry Summers. Für die Geldpolitik der Zentralbanken hat das dramatische Konsequenzen. Es bedeutet, dass ihre Strategie, mit niedrigen Zinsen erst die Beschäftigung, dann die Löhne und schließlich die Preise nach oben zu treiben, gescheitert ist. Schlimmer noch: Machen sie weiter wie bisher, laufen sie Gefahr, Blasen an den Vermögensmärkten aufzupumpen, die die Welt in eine neue Krise stürzen.

Wie Europas Währungen ohne Euro auf- oder abwerten müssten
Das SzenarioDer US-Finanzriese Bank of America Merrill Lynch (BoA) wollte es genauer wissen: Analyst Athanasios Vamvakidis hat den Euro-Währungsraum unter der Maßgabe genauer unter die Lupe genommen, dass die Euro-Zone auseinanderbricht und der Euro abgeschafft wird. Hintergrund sind neben den hohen Staatsschulden einzelner Peripheriestaaten vor allem das absehbare Ende der massiven Anleihekäufe durch die Europäische Zentralbank (EZB), das sogenannte OMT-Programm, und in der Folge wieder steigende Zinsen. Nur die Geldpolitik der EZB hat 2012 eine Eskalation der Staatsschuldenkrise verhindert, in dem die Kreditkosten für die Peripheriestaaten auf ein historisches Tief gedrückt wurden. Was also passiert, wenn das OMT-Programm endet? Quelle: dpa
Schatten-WechselkurseDie BoA-Experten erwarten, dass die EZB das OMT-Programm im kommenden Jahr reduziert und schrittweise auslaufen lässt. Dadurch würden auch die Finanzierungskosten der Staaten wieder ansteigen, obwohl es länger dauern dürfte, die Leitzinsen wieder anzuheben. Insgesamt rechnet die BoA dann mit höheren Schuldenquoten in Italien, Spanien, Portugal und Griechenland als 2012 auf den Höhepunkt der Euro-Schuldenkrise. Ohne einschneidende Reformen steigt somit das Risiko, dass die Euro-Zone auseinanderbricht. Dies vor Augen hat BoA-Analyst Vamvakidis Schattenwechselkurse für die nationalen Nachfolgewährungen gegenüber dem heutigen Euro berechnet. Diese legen Währungsunterschiede zwischen den Euro-Staaten offen, die derzeit durch die Gemeinschaftswährung verborgen sind. Quelle: dpa
GriechenlandGriechenland bleibt das Sorgenkind der Euro-Zone. Trotz spürbarer Fortschritte liegt die Überbewertung Griechenlands zusammen mit der Spaniens an der Spitze. Die griechische Drachme müsste deshalb nach heutigem Stand um 7,5 Prozent abwerten. Immerhin: Vor der Krise lag der Abwertungsbedarf eher bei 30 Prozent, insofern war die Verbesserung deutlich. Nur ein Land der Euro-Zone ist aktuell so stark überbewertet wie Griechenland. Quelle: dpa
SpanienMüsste Spanien zur Peseta zurückkehren, wäre laut BoA eine Abwertung der spanischen Währung um 7,5 Prozent erforderlich. Gegenüber dem Abwertungsbedarf vor der Krise von rund 14 Prozent ist das schon eine Stabilisierung. Allerdings haben sich Spaniens Staatsschulden seit 2008 nahezu verdreifacht. Dank der Geldpolitik der EZB hat sich die Zinsbelastung des Staates jedoch nur um 80 Prozent erhöht. Quelle: Fotolia
FrankreichBräche der Euro heute auseinander, müsste der Franc um fünf Prozent abwerten – und damit deutlich mehr als zu Vorkrisenzeiten. Damals lag die Überbewertung bei nur zwei Prozent. Insgesamt, so Studienautor Vamvakidis, sei die Überbewertung jedoch zu gering, um die Forderungen der Rechtspopulistin Marine Le Pen nach einem Frexit und einer anschließenden Abwertung des Franc zu rechtfertigen. Quelle: dpa
ItalienItalien bleibt etwas überbewertet, so dass die italienische Lire nur um drei Prozent abwerten müsste, um einen angemessenen Wechselkurs zu erreichen. Vor der Krise betrug die Überbewertung noch 7,5 Prozent. Seit 2012 ist die Zinsbelastung des Staates deutlich gesunken. Quelle: dpa
PortugalAuch in Portugal hat sich die wirtschaftliche Lage deutlich gebessert, so dass der Escudo nach heutigen Maßstäben nur noch leicht, nämlich um ein Prozent abwerten müsste, um im Gleichgewicht mit den übrigen Euro-Staaten zu notieren. Quelle: dpa

Fieberhaft suchen Ökonomen daher nach den Ursachen der Lohnschwäche. Ein Grund könnte die Globalisierung sein, die auch die Dienstleistungsmärkte erfasst. So können Unternehmen dank besserer Datennetze komplexe Dienstleistungen ins billigere Ausland verlagern. Das erhöht den Druck auf die heimischen Arbeitskräfte. Diese müssen sich bei den Löhnen zurückhalten, wollen sie angesichts der neuen Konkurrenz ihre Jobs nicht verlieren.

Ein zweites Argument für das schwache Lohnwachstum lautet: Die Lage am Arbeitsmarkt ist vielerorts gar nicht so rosig, wie die offiziellen Statistiken suggerieren. Bezieht man die Arbeitslosen, die die Jobsuche aus Frust aufgegeben haben, und die Teilzeitkräfte, die lieber in Vollzeit arbeiten würden, mit ein, liegt die Erwerbslosenquote in den USA bei 8,6 Prozent – also fast doppelt so hoch wie die offizielle Quote. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Peter Diamond glaubt daher, dass Arbeitskräfte gar nicht knapp sind. „Wären sie knapp, würden die Unternehmen die weniger gut Gebildeten einstellen und sie im Betrieb fit machen, doch davon ist nichts zu sehen“, sagt Diamond. Das hohe Angebot an De-facto-Arbeitsuchenden drücke die Löhne daher nach unten. Ändern werde sich das erst, wenn die Konjunktur noch ein paar Gänge hochschalte, glaubt Diamond.

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