Die Zeichen verdichten sich, dass die Inflation bei einigen der größeren Zentralbanken Reaktionen auslösen wird, die zumindest erste Schritte in Richtung einer Eindämmung des Geldmengenwachstums sind. Ob es eine harte Reaktion sein wird, ist nicht ausgemacht. Es ist aber eher wahrscheinlich, dass es zu einer Art sukzessivem Entzug kommt, dessen Wirkungen freilich kaum prognostizierbar sind. Die Kombination aus hoher Inflation, holpernder Konjunktur, hohen Rohstoff- und Energiepreisen bei gleichzeitiger Störung der globalen Warenketten infolge der Pandemie und den gewachsenen politischen Konflikten ist an sich schon eine toxische Mischung.
Berücksichtigt man zusätzlich den maroden Zustand der öffentlichen Haushalte in vielen europäischen Staaten, wird offenkundig, warum ein harter Entzug – das heißt eine Einstellung des QE-Programms (Quantitative Easing, zu deutsch Quantitative Lockerung, Anm. d. Red.) und eine nennenswerte Erhöhung der Zentralbankzinssätze – unwahrscheinlich ist. Nur wird durch Laufenlassen oder bestenfalls marginale Korrekturen die Lage nicht besser, im Gegenteil. Ein „harter Entzug“ zu einem späteren Zeitpunkt wird dann viel wahrscheinlicher. Wohin das führen kann, zeigt der sogenannte Volcker-Schock von 1979/80, als die amerikanische Notenbank die Zinsen – auch weil man der Inflation zu lange zugesehen hatte – auf schließlich mehr als 20 Prozent drastisch anhob. Das lohnt einen wirtschaftshistorischen Rückblick.
Nach dem Auslaufen des Wiederaufbaubooms und dem Ende der Rekonstruktionsperiode zu Beginn der Siebzigerjahre war es zu einem bemerkenswerten Rückgang der Wachstumsraten, zu wiederkehrenden Wirtschaftskrisen mit relativ hoher Arbeitslosigkeit und zu einer Destabilisierung der internationalen Währungsordnung gekommen. Die großen westlichen Staaten reagierten auf die Wiederkehr von Stagnation und Krisen mit einer Intensivierung der kontrazyklischen Konjunkturpolitik. Mithilfe einer Erhöhung der Staatsverschuldung suchten sie, den Wachstumspfad der Sechzigerjahre wieder zu erreichen.
Doch das Experiment ging gründlich daneben, weil die Wachstumsbedingungen sich geändert hatten, die globalen Strukturen sehr viel kompetitiver geworden waren (Aufstieg Japans und der asiatischen Tiger) und viele westliche Volkswirtschaften erheblich an Konkurrenzfähigkeit verloren hatten. Nach der Erhöhung der Rohölpreise 1973/74 waren bestimmte Länder wie Italien und Großbritannien kaum noch in der Lage, ihre Ölrechnung zu bezahlen. Hier wie in anderen Ländern gingen als Folge sinkender Kapitalrentabilität die Investitionsquoten drastisch zurück. Statt des erhofften Aufschwungs kam es zu einer gewaltigen Inflationswelle, die durch fast alle westlichen Volkswirtschaften lief und im Laufe der Siebzigerjahre nicht selten die 20-Prozent-Marke riss.
Allein die Bundesbank und die Schweizer Notenbank, die frühzeitig auf die Stabilität ihrer heimischen monetären Verhältnisse bedacht waren, konnten die Inflationsraten in ihren Ländern einigermaßen niedrig halten. Nach dem Ende des Wechselkursmechanismus von Bretton Woods werteten die Deutsche Mark und der Schweizer Franken gegenüber dem Dollar denn auch massiv auf und wurden nicht wie das britische Pfund mit in den Abwertungssog gerissen. Nicht zuletzt deshalb gelang es der westdeutschen Wirtschaft auch relativ schnell, die Folgen der Ölpreiserhöhung, die ja in Dollar zu Buche schlug, in den Griff zu bekommen. Schon nach relativ kurzer Zeit drehten sich im deutschen Fall die terms of trade wieder ins Positive, die westdeutsche Wirtschaft profitierte nun zusätzlich von der gestiegenen Kaufkraft der Ölförderländer, die in Deutschland Investitionsgüter nachfragten oder Unternehmensanteile erwarben.
Andere Länder, vor allem Großbritannien und die USA, wurden von der hohen Inflation schwer getroffen. In Großbritannien führte die Mischung aus hoher Inflation und Zahlungsbilanzkrise in den späten Siebzigerjahren zu einer Art gesellschaftlichen Lähmung. Die sinkende internationale Konkurrenzfähigkeit der englischen Wirtschaft hätte eigentlich harte Reformen verlangt, die von den wegen der Inflation faktisch zum Dauerstreik gezwungenen Gewerkschaften aber verweigert wurden. Der Winter 1978/79 ging als „winter of discontent“ in die britische Geschichte ein. Erst vor diesem Hintergrund werden der Wahlerfolg von Margaret Thatcher und seine Bedeutung für den strukturellen Wandel der britischen Wirtschaft in den folgenden Jahren überhaupt verständlich.
In den USA waren es vor allem die hohe Inflation von etwa 20 Prozent und die sich drastisch verschlechternden Außenhandelsdaten, die Präsident Jimmy Carter nach langem Zögern 1979 schließlich dazu brachten, den neu ernannten Fed-Chef Paul Volcker zu drastischen Schritten gegen die Inflation aufzufordern. Was nun geschah, ist als Volcker-Schock in die amerikanische Wirtschaftsgeschichte eingegangen. Die deutliche Zinserhöhung, die Volcker auf den Weg brachte, hatte für die Binnenwirtschaft gravierende Folgen. Die amerikanische Wirtschaft versank 1980 mit einer Vielzahl von Insolvenzen und Zusammenbrüchen sowie steigender Arbeitslosigkeit in einer schweren Krise; die gleichzeitig wieder anziehenden Ölpreise taten das ihrige, um die Situation zu verschärfen. Aber: Die Inflation ging deutlich zurück. Dass in dieser Konstellation die Wiederwahl Jimmy Carters scheiterte und stattdessen mit Ronald Reagan eine Art „neoliberale Erneuerung“ den Zuspruch der Wähler fand, war ähnlich wie die Wahl von Margaret Thatcher in Großbritannien eine Art Quittung für die gescheiterten keynesianischen Experimente.
In der Bundesrepublik Deutschland verlief die Stagflationskrise nicht zuletzt wegen der frühzeitig restriktiven Haltung der Bundesbank und der weiterhin relativ hohen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie milder, aber den Rhythmus der neuen internationalen Konstellation bekam auch sie mit. 1980 rutschte die westdeutsche Wirtschaft erneut in eine Rezession. Der gleichzeitige Bundestagswahlkampf, in dem sich als Aushängeschilder ihrer Gruppierungen Helmut Schmidt und Franz-Josef Strauß gegenüberstanden, war von den gleichen Themen bestimmt wie in den anderen westlichen Ländern: Krise, Inflation, Arbeitslosigkeit und wachsende Staatsverschuldung.
Obwohl die katholischen Bischöfe im Wahlkampf von den Kanzeln ein Mahnwort zur Staatsverschuldung verlesen ließen, gelang es Helmut Schmidt, die Kanzlerschaft vor dem freilich in weiten Teilen Westdeutschlands ungeliebten Franz-Josef Strauß zu behaupten. Der Sieg war knapp, und eigentlich hatte auch die FDP gewonnen, die 1980 noch zu Helmut Schmidt stand. Ihr Stimmanteil war deutlich gewachsen und zwei Jahre später vollzog Graf Lambsdorff den Bruch zu einer neuen Wirtschaftspolitik, als er Helmut Kohl ins Kanzleramt verhalf. Eine Entscheidung, die im März 1983 durch die Bundestagswahl, in der CDU/CSU fast 49 Prozent der Stimmen bekamen, bestätigt wurde. So hatte auch die alte Bundesrepublik ihre wirtschaftsliberale „Wende“, die freilich gemessen an Großbritannien und den USA auch deshalb überaus gemäßigt ausfiel, weil die Bekämpfung der Inflation vor allem durch die Bundesbank frühzeitig begonnen worden war.
Allein diese Unterschiede rechtfertigen einen Rückblick. Doch die Erinnerung an die Zinserhöhungen in den USA sind noch aus einem anderen Grunde lehrreich. Die Investitionsschwäche der großen westlichen Industriestaaten in den Siebzigerjahren wurde bereits angesprochen; angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen war auch kaum zu erwarten, dass sich das kurzfristig ändern würde. Insofern bestand eine Art „Anlagenotstand“, der durch gewaltige Summen im Euro-Dollar-Markt und durch die nun einsetzenden riesigen Rückflüsse an Petrodollars noch maßgeblich vergrößert wurde.
Wohin mit dem ganzen Geld, war die Frage. Und nachdem klar war, dass die USA keine „staatliche“ Geldadministration durch den IWF wollten und die Ölförderländer ihr Geld sicher anlegen und nicht in politische Entwicklungsprojekte stecken würden, fiel die Aufgabe der Nutzung der gewaltigen Geldsummen den großen internationalen Banken zu. Die Banken machten sich auf die Suche nach lukrativen Anlageobjekten und fanden sie in den kapitalhungrigen Staaten Lateinamerikas, Ostasiens und in den als gute Schuldner geltenden Ländern Osteuropas. Hier bauten sich nach und nach beträchtliche Schuldenberge auf, die aber angesichts der niedrigen Realzinsen (Zinssatz minus Inflation) und der Ertragschancen, die in einer Modernisierung der jeweiligen Wirtschaften lagen, relativ leicht tragbar erschienen. Die „Reformen“ in Chile nach dem Putsch gegen Salvador Allende wirkten dabei in gewisser Hinsicht als Türöffner. Auch wenn schnell klar war, dass kaum alle in Lateinamerika investierten Summen produktiv genutzt wurden, floss der Kapitalstrom lange Zeit ungehindert.
Die Zinserhöhung der Fed, der Volcker-Schock, beendete die Party allerdings schlagartig. Die Schuldenkrise Lateinamerikas hatte hier ihren eigentlichen Auslöser. Ebenso waren die harten Reaktionen des IWF bei der Sanierung von Ländern wie Mexiko, die als Inbegriff des modernen Neoliberalismus gelten, Folgen des Volcker-Schocks und der durch ihn ausgelösten Zahlungsströme, die eine Sanierung nur bei entsprechender Gegenleistung zuließen. Ähnlich hart traf es viele der großen internationalen Banken, die plötzlich auf Forderungen saßen, deren Eintreibung nicht mehr sicher war und die entsprechend um ihre eigene Existenz fürchteten. Die Politik der Verbriefung von Schuldforderungen und die damit verbundene Verschiebung der Forderungen aus den Bilanzen der Banken in die Portfolios der Anleger, die mustergültig im Brady-Plan von 1992 zum Ausdruck kam, ist letztlich nur über die Wirkungen des Volcker-Schocks zu begreifen. Insofern hat er auch mit der Weltfinanzkrise von 2008 sehr viel mehr zu tun, als man auf den ersten Blick glaubt.
Die Gegenwart ist also von den Ereignissen der Siebzigerjahre relativ stark beeinflusst. Volckers brachiale Intervention am amerikanischen Geldmarkt fiel ja deshalb so hart aus, weil die amerikanische Regierung und die Notenbanken die inflationären Entwicklungen relativ lange hingenommen hatten. Ein solcher Volcker-Schock droht auch in Europa mit zumindest potentiell dramatischen Folgen für die Euro-Zone. Denn heute sind es die hiesigen Staaten, die bei steigenden Zinsen rasch überschuldet wären. Gerade das aber bedingt das Dilemma, vor dem heute unter anderem die EZB steht: Wird sie restriktiver, könnte das zumindest kurzfristig die Krisenerscheinungen verstärken, unter Umständen aber auch den inflationären Druck senken. Wird sie nicht restriktiver, sondern lässt die Inflation mit einigen beruhigenden Worten erst einmal weiter laufen, droht ein unter Umständen umso härterer Schnitt, der dann gravierende Wirkungen nach sich zieht. Angesichts der Herausforderungen durch die Pandemie und der ohnehin sich in der Euro-Zone kumulierenden Probleme inklusive einer immer teurer und wirtschaftlich immer ineffizienter werdenden Energiewende spricht im Moment wenig für eine langsame Beendigung einer die Inflation begünstigenden Geld- und Währungspolitik. In den USA scheint die Erinnerung an den Volcker-Schock präsenter!
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