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Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe über das gespaltene Verhältnis der Deutschen zum Kapitalismus. Quelle: imago/montage

Warum wir den Kapitalismus brauchen – und auch seine Kritiker

Vorbehalte gegen den Kapitalismus ziehen sich durch die gesamte Geschichte. Doch am Ende kann Kritik die Marktwirtschaft sogar stärken.

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Warum ist der Kapitalismus so unbeliebt? Die Antwort auf diese Frage fällt manchen leicht: Das liege an der offenkundig fehlenden Gerechtigkeit, an den vielen Krisen und Problemen, die er erzeuge. Für seine Verteidiger sind solche Vorbehalte ein Ausdruck von mangelnder wirtschaftlicher Einsicht. Unstrittig ist, dass der Kapitalismus politisch und gesellschaftlich unter Druck steht, mal mehr, mal weniger. Zurzeit wieder mehr.

Wachsende Kapitalismuskritik ist dabei kein neues Phänomen, das etwa durch die Weltfinanzkrise schnell erklärt wäre. Die Deutschen und der Kapitalismus – das war nie ein Liebesverhältnis. Die verbreitete Skepsis gegenüber der „Herrschaft des Marktes“, die wir heute wahrnehmen, zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Geschichte. Eine durchgängig prokapitalistische Stimmung hat es schon im Kaiserreich kaum gegeben, trotz der damaligen technischen und industriellen Erfolge Deutschlands.

Die grundsätzlichen Vorbehalte gegen den Kapitalismus sind aber noch älter, teils älter als er selbst. Die christliche Kritik an der Geldwirtschaft, das Lob der Armut und die Verteufelung von Habgier gab es lange vor der modernen Wirtschaft, die in gewisser Weise nur neuen Stoff und neue Anlässe lieferte.

Zugespitzt könnte man die Geschichte des Kapitalismus auch als die Geschichte seiner Kritik, ja der moralischen Empörung über ihn bezeichnen – was kein Widerspruch ist, sondern Ausdruck eines dynamischen Verhältnisses. Der paradoxe Befund lautet, dass die Wandlungsfähigkeit der modernen Wirtschaft von ihrer Fähigkeit abhängt, kritische Impulse aufzunehmen und zu verarbeiten, die sie selbst ständig aufs Neue provoziert.

Alle Merkmale des Kapitalismus waren und sind davon betroffen: Die laufende Änderung von Produkten und Produktionsverfahren hat ebenso Kritik auf sich gezogen wie die soziale Lage der arbeitenden Menschen. Auch die Umweltbelastungen durch neue Methoden der Massenproduktion riefen warnende Stimmen auf den Plan. All das führte zu politischen Reaktionen, zur Bereitschaft, die Wirtschaft zu regulieren, sie sozial abzufedern und die Verlierer des Strukturwandels sich nicht allein zu überlassen.

Der Aushandlungsprozess vollzog sich nicht ohne Kämpfe und teils heftige Auseinandersetzungen. Doch letztlich erwies sich der Kapitalismus als gestaltbar, jedenfalls nicht als das feste, einheitliche Zwangskorsett, das Kritiker in ihm sehen. Der Kapitalismus ist ein Möglichkeitsraum, der Varianten der Gestaltung zulässt. Kapitalismus und Kapitalismuskritik sind mithin keine Gegensätze, sondern eine Art Ermöglichungszusammenhang. Das liegt den vielen „varieties of capitalism“ zugrunde, die den gegenwärtigen globalen Wirtschaftsalltag zugleich einheitlich und unterschiedlich erscheinen lassen.

Revolutionär war und ist Kapitalismuskritik daher nicht. Das vermuteten bereits die kommunistischen Kritiker der Sozialdemokratie, die ihr zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorwarfen, den Kapitalismus nicht abschaffen zu wollen, sondern sich als „Arzt am Krankenbett“ des Kapitalismus zu gebärden.

Freilich erwies sich die Hoffnung der radikalen Antikapitalisten, zwar den Kapitalismus abschaffen, aber die unter ihm erreichte Leistungsfähigkeit der Wirtschaft beibehalten zu können, als illusorisch. Den sozialistischen Ordnungen fehlte die Veränderungsdynamik. Sie ist allein dem Kapitalismus gegeben und spiegelt das wider, was Joseph Schumpeter „schöpferische Zerstörung“ nannte. Der disruptive Wandel hat etwas Brutales, er führt zu nichts Harmonischem, sondern lockt allein mit der Aussicht auf bessere materielle Lebensbedingungen. Davon profitieren alle, wenn das kapitalistische System angemessen gestaltet wird.

Bittere Lektion des Sozialismus

Für die alltägliche Formung des Kapitalismus, für eine den jeweiligen strukturellen Bedingungen angemessene Regulierung, ist Kritik daher essenziell. Es muss jedoch eine Kritik sein, die an einer Balance zwischen ökonomischem Wandel und sozialer Wünschbarkeit interessiert ist. Nur so kann es eine je neu auszuhandelnde Ordnung der kapitalistischen Welt geben – eine Ordnung, die ja immer in der Gestaltung von Handlungsspielräumen besteht, deren Nutzung zu je gegebener Zeit immer auch anders vorstellbar ist.

Ohne den Kapitalismus gäbe es diese Spielräume nicht. Das ist die bittere Lektion des untergegangenen Sozialismus, der seine antikapitalistischen Versprechen zu keiner Zeit eingehalten hat – auch und gerade weil er mit Kritik nicht umgehen konnte. Unbehagen am Kapitalismus, Vorbehalte und Kritik gegenüber einer Marktwirtschaft mit ihrer inhärenten sozialen Ungleichheit und ihrer laufenden schöpferischen Zerstörung sind insofern nichts Überraschendes. Sie gehören zur kapitalistischen Ordnung konstitutiv dazu, die nach fortdauernder Gestaltung verlangt. Als Moment der Gestaltung des Wandels ist Kritik notwendig. Als Programm, den Kapitalismus abzuschaffen, führt sie ins ökonomische Desaster.

Mehr zum Thema: Für die politische Linke zählt „neoliberal“ in wirtschaftspolitischen Debatten zu den übelsten Schimpfworten. Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte: Der ursprüngliche Neoliberalismus ist ganz anders, als ihn sich seine heutigen Gegner vorstellen. Wirtschaftsdiskurs: Ist Neoliberalismus = Turbokapitalismus?

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