WiWo-Konjunkturradar „Wir bewegen uns nur langsam in Richtung Aufschwung“

Quelle: imago images

Der konjunkturelle Jahresstart ist verpatzt, aber die deutsche Wirtschaft könnte im laufenden Quartal wieder ein bisschen wachsen – hauptsächlich, weil die Beschäftigten weniger krank sind.

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Wohin driftet die Konjunktur? Wer Clemens Fuest in diesen Tagen danach fragt, erhält eine skeptische Antwort. Der Präsident des Münchner ifo-Instituts erwartet zwar keine Rezession, „aber wir sind nicht weit davon entfernt“. Und selbst wenn: Ob Deutschland um 0,1 Prozent wachse und schrumpfe, sei nebensächlich. „Das tiefere Problem“, warnt der Ökonom, „liegt darin, dass wir in einer tendenziell stagnierenden Wirtschaft leben“. Und derzeit deute sich kein Einschwenken auf einen neuen kräftigen Wachstumspfad an. Fuest: „Es gibt einfach zu viele Belastungsfaktoren: die Geopolitik, die Energieunsicherheit, steigende Zinsen, den Arbeitskräftemangel.“

Auch beim Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) dringen allenfalls Molltöne aus der Prognoseabteilung. Nachdem das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den ersten drei Monaten des Jahres stagnierte, dürfte die Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal nur um 0,2 Prozent zulegen. Das signalisiert der vom IWH exklusiv für die WirtschaftsWoche erstellte BIP-Flash-Indikator (siehe Grafik ). Im dritten Quartal könnte die deutsche Wirtschaft demnach um 0,3 Prozent gegenüber der Vorperiode zulegen – dynamisch geht anders. In den IWH-Indikator gehen rund 160 Einzelindikatoren ein, darunter auch globale Finanzmarktdaten und Umfrageergebnisse.

Dass es nach der Stagnation zum Jahresbeginn zumindest etwas nach oben geht, liegt laut IWH vor allem am gesunkenen Krankenstand in den Betrieben. Im April war dieser erstmalig seit Monaten wieder deutlich geringer als im Vorjahresmonat. „Mit dem damit verbundenen höheren Arbeitsvolumen verringern sich auch die Produktionseinschränkungen der vergangenen Quartale“, sagt IWH-Vizepräsident Oliver Holtemöller.

Zugleich nehmen allerdings die weltwirtschaftlichen Risiken zu. Während sich der Dienstleistungssektor sukzessive von den Folgen der Pandemie erholt, schwächeln vielerorts Handel und Industrie. „Der internationale Warenhandel ist seit Herbst abwärtsgerichtet“, sagt Holtemöller. Zudem belaste „die zähe Diskussion um die Erhöhung der US-Schuldenobergrenze die Konjunktur“.

Hier die komplette IWH-Analyse im Wortlaut:

„Zu Beginn des Jahres 2023 konnte sich die deutsche Wirtschaft zwar gegen das Abrutschen in eine technische Rezession stemmen, doch im ersten Quartal stagnierte die Wirtschaftsleistung. Hart traf es vor allem die privaten Konsumausgaben. Sie sanken das zweite Mal in Folge. Insbesondere die hohe Inflation belastete die privaten Haushalte, die Einzelhandelsumsätze sanken deutlich. Hingegen haben Exporte und Investitionen wieder zugelegt, sodass der schwache Konsum zumindest kompensiert werden konnte. Insbesondere sind die Pkw-Umsätze gestiegen und dürften auch im April aufwärtsgerichtet bleiben, wie die Kfz-Neuzulassungen signalisieren. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird laut IWH-Flash-Indikator im zweiten Quartal leicht um knapp 0,2 Prozent zulegen. Im dritten Quartal beträgt der Zuwachs gegenüber dem Vorquartal demnach 0,3 Prozent.

Gebremst wurde das Wachstum zuletzt durch einen ausgesprochen hohen Krankenstand, der bereits im Schlussquartal 2022 zu einem kräftigen Rückgang im Arbeitsvolumen beigetragen hatte. Dies dürfte sich laut Krankenstandmeldungen der gesetzlichen Krankenversicherungen im ersten Quartal 2023 fortgesetzt haben. Im April war der Krankenstand erstmalig wieder deutlich geringer als im Vorjahresmonat. „Mit dem saisonal bedingten Rückgang des Krankenstandes und dem damit verbundenen höheren geleisteten Arbeitsvolumen verringern sich auch die Produktionseinschränkungen der vergangenen Quartale“, sagt Oliver Holtemöller, Leiter der Abteilung Makroökonomik und Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH).

Der BDI verlangt von der Ampel-Koalition ein Konzept für sichere und günstige Energieversorgung. Der Industrieverband fordert mehr Hilfen für Unternehmen, die unter hohen Strompreisen leiden.

Allerdings sanken im März die Auftragseingänge im verarbeitenden Gewerbe drastisch um 10,7 Prozent; vor allem gingen die Bestellungen für Investitionsgüter von außerhalb des Euroraums zurück. Der S&P Global/BME Einkaufsmanagerindex (EMI) berichtet von einer schwierigen Neuakquise auch für den April. Die Produktion und Geschäftsaussichten der Unternehmen verbesserten sich jedoch bereits wieder.

Ebenso zeigt die ifo-Konjunkturumfrage im April positivere Geschäftserwartungen über alle Bereiche. Dazu dürften die weiter gesunkenen Einkaufspreise und leicht gestiegenen Verkaufspreise beigetragen haben. Die vom ZEW erhobenen Konjunkturerwartungen von Finanzmarktexperten verschlechterten sich hingegen. Auch die Kreditvergabekonditionen verschlechterten sich aufgrund der restriktiven Geldpolitik.

Eine Abschwächung der Konjunktur signalisiert auch der Early-Bird-Indikator der Commerzbank. Beide Indikatoren lassen in den nächsten sechs Monaten keine wesentliche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage erwarten. „Die deutsche Wirtschaft tritt momentan auf der Stelle und wird wohl in den kommenden Monaten nur langsam den Weg in Richtung Aufschwung finden“, meint Oliver Holtemöller. Zumal sich auch die internationale Konjunktur gespalten zeigt. Während die Produktion im Euroraum im ersten Quartal in etwa stagnierte, hat sie in den USA mit (nicht annualisierten) 0,3 Prozent weiter expandiert. In China kam es zu einer recht kräftigen Erholung (plus 2,2 Prozent).

Ins Auge sticht der große Unterschied zwischen der Industrie- und der Dienstleistungskonjunktur: Der internationale Warenhandel ist seit Herbst abwärtsgerichtet. Dagegen deutet der globale Einkaufsmanagerindex von S&P auf einen Aufschwung hin, was auf die sehr positive Stimmung in den Dienstleistungsbranchen zurückgeht. Der Indikator für die Industrie signalisiert hingegen nur Stagnation. Hier zeigt sich, dass die weltwirtschaftlichen Nachfragestrukturen immer noch dabei sind, sich zu normalisieren, nachdem in der Pandemie Industriegüter zu Lasten der Dienstleistungen erheblich an Bedeutung gewonnen hatten.“

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Ansonsten haben die Konjunkturrisiken wegen Entwicklungen in den USA zuletzt wieder zugenommen: Zum einen wurde mit den Problemen der Geschäftsbank First Republic deutlich, dass die Bankenkrise in den USA auch im Mai noch nicht ausgestanden ist. Zum anderen belastet die zähe Diskussion um die Erhöhung der US-Schuldenobergrenze die Konjunktur.

Lesen Sie auch das Interview mit US-Ökonom John Cochrane: „Wir erhalten die Quittung in Form der hohen Inflation“

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