Zeitpräferenztheorie Darum ist ein negativer Urzins widersinnig

Zeitpräferenztheorie: Ein Euro heute ist mir lieber als ein Euro in einem Jahr Quelle: imago images

Thorsten Polleit, Chefvolkswirt der Degussa Goldhandel, ist überzeugt, dass ein negativer Urzins nicht möglich ist - und die Verfechter der Negativzinsen deshalb falschliegen. In diesem Gastbeitrag erklärt er, warum.

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Das Phänomen des Zinses lässt sich widerspruchsfrei durch die Logik des menschlichen Handelns verstehen. Die Erklärung beginnt mit der nicht widerlegbaren Aussage „Der Mensch handelt.“ (Wer sagt, der Mensch handelt nicht, der handelt und widerspricht dem Gesagten.) Aus ihr lässt sich folgern, dass Handeln stets zielbezogen ist. (Auch das lässt sich nicht widerspruchsfrei verneinen.) Und weiter: Wer handelt, der muss Mittel einsetzen, um Ziele zu erreichen, und Mittel sind stets knapp. Zeit ist ein unverzichtbares Mittel. (Zeitloses Handeln lässt sich nicht widerspruchsfrei denken.) Weil Handeln Knappheit impliziert, wertet der Handelnde notwendigerweise einen größeren Gütervorrat (mehr Mittel) höher als einen kleineren Gütervorrat (weniger Mittel).

Weil Zeit ein knappes Mittel ist, zieht der Handelnde auch eine frühere Zielerreichung einer späteren vor. Darin kommt die Zeitpräferenz zum Ausdruck. Ihre Manifestation ist der Urzins. Er steht für den Wertabschlag, den die spätere Erfüllung der Bedürfnisse gegenüber der früheren Erfüllung der Bedürfnisse (von gleicher Art und Güter und unter gleichen Bedingungen) erleidet. Zeitpräferenz und Urzins sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich, und sie können sich auch im Zeitablauf verändern; sie können sich zum Beispiel in Richtung der Nulllinie bewegen. Aber Zeitpräferenz und Urzins können niemals null oder negativ werden; sie lassen sich aus dem Werten und Handeln der Mensch nicht wegdenken.

Man durchdenke dazu nur einmal Folgendes: Wenn Ihr persönlicher Urzins, verehrte Leserin, geehrter Leser, null Prozent wäre, wenn Sie also keine Zeitpräferenz hätten, würden Sie daher aus Ihrem Einkommen nichts mehr konsumieren und alles sparen und investieren, um dadurch ein künftig größeres Güterangebot genießen zu können: Sie konsumieren heute nicht, morgen nicht, nicht in einem Jahr, nicht in zehn Jahren. Eine völlig absurde Vorstellung! Ein weiteres Beispiel: Ein Urzins von null Prozent würde die Grundstückspreise, die sich aus der Abzinsung aller künftigen Bodenrenten ergeben, ins Unendliche treiben. Grundstücke würden unbezahlbar!
Wer sagt, der Urzins sei null, der verneint implizit damit, dass die Mittel knapp sind – und das ist als logisch falsch einsehbar. Und erst ein negativer Urzins: Er ist handlungslogisch gar nicht sinnvoll denkbar für den logischen Menschenverstand!

Die vielen Beispiele, die Hauptstrom-Ökonomen aufbieten, um einen negativen Urzins zu begründen, können nicht überzeugen. Wenn sich etwa der Goldmarkt im Contango befindet (der Terminpreis übersteigt den Kassapreis), bedeutet das nicht, dass Zeitpräferenz und Urzins der Marktakteure negativ sind. Und beide sind auch dann nicht negativ, wenn der Preis, den man für Eis im nächsten Sommer bereit ist zu zahlen, höher ist als heute im Winter. In diesen Beispielen kommt nämlich zusätzlich zum Urzins (der stets und überall positiv ist) noch ein Faktor in der Wertbestimmung zum Tragen, der die Handlungsbedingungen zu dem Zeitpunkt berücksichtigt, an dem gehandelt wird („Timing of an action“, darauf hat Frank A. Fetter (1863–1949) hingewiesen).

In „Reinform“ zeigt sich der Urzins nur im Tausch einer gegenwärtig verfügbaren Geldeinheit gegen eine erst künftig verfügbare Geldeinheit, also im Kreditmarkt (genauer: Zeitmarkt), nicht aber im intertemporalen Tausch von Sachgütern. Es mag also durchaus Pensionäre geben, die sich heute gut versorgt fühlen und denen ihre künftige Güterausstattung wichtiger wird als die gegenwärtige. Aber auch für sie gilt die Logik des Handelns: Eine heute verfügbare Geldeinheit wird denknotwendig höher gewertet als dieselbe Geldeinheit, die erst in der Zukunft erhältlich ist: Die Pensionäre werten einen Euro heute höher als einen Euro (und selbstverständlich auch als 0,95 Euro) in zehn Jahren, denn ihr Urzins ist positiv, er kann aus handlungslogischen Gründen nicht null oder negativ sein.

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