Zum 30. Todestag Friedrich von Hayeks Warum Sie gerade jetzt von Hayek lesen sollten

Hayek

Heute vor 30 Jahren ist Friedrich August von Hayek gestorben. Was bleibt? Warum wir seine Texte lesen müssen? Eine kritische Würdigung.

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Für Friedrich August von Hayek war es ein Fest. Als am 9. November 1989 das System der Sozialistischen Republiken implodierte, die Berliner Mauer fiel und die Menschen auf Deutschlands Straßen im Takt der Freiheit tanzten, saß der große liberale Sozialphilosoph in Freiburg gerührt vor dem Fernseher und rief seinem Sohn zu: „Ich wusste es! Ich wusste, dass es die jungen Menschen sein würden.“

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang war Hayek dem Sozialismus in inniger Feindschaft verbunden gewesen. Er hatte sich von ihm bedroht gefühlt, ihn bekämpft, sich an ihm abgearbeitet, ja: ihm sein ganzes Forscherdasein gewidmet. Wenn es einen Fluchtpunkt gegeben hatte in seinem thematisch breit gefächerten Werk, das sich über ökonomische, psychologische und erkenntnistheoretische Felder erstreckte und dabei ständig die Grenzen zwischen akademischer Strenge und politischer Programmatik überschritt, dann war es der Versuch einer wissenschaftlichen Widerlegung von Planwirtschaft und Kollektivismus.

Die List der Vernunft

Hayek hatte zu den Forschern gehört, die ihre intellektuelle Energie aus der Gegnerschaft beziehen, die am geistigen Feind ihre Argumente schärfen, die hitzige Kontroversen brauchen, um kühle Schlussfolgerungen zu ziehen, und Übertreibungen schätzen, um Sachlichkeiten zu würzen. Jetzt, am Ende seines Lebens, benötigte er keinen Widersacher mehr. Zweieinhalb Jahre sollten ihm noch bleiben, der Feind war gründlich widerlegt und historisch besiegt, die Kraft der sozialistischen Idee war so erschöpft wie Hayeks Physis – und sein heftig umstrittenes Werk konnte endlich als das gewürdigt werden, was es – List der Vernunft – vor allem ist: das schönste Vermächtnis des Sozialismus.

Hayek war kein Meisterdenker sui generis. Sein Werk lässt sich lesen als apologetische Modernisierung des klassischen Liberalismus – er selbst spricht in Vorwort und Einleitung seines Freiheitsbuches davon, eine „Art Anthologie des liberalen Denkens“ verfassen zu wollen, um den Einfluss „alter Wahrheiten“ auf das Denken der Menschen zu bewahren. Hayek hielt die bürgerlichen Werte des 19. Jahrhunderts für kulturelle Errungenschaften. Persönliche Freiheit, Eigentum, Gleichheit vor dem Gesetz, Machtdiffusion durch Wettbewerb und Marktwirtschaft – das alles seien Eckpfeiler der Zivilisation, ja: Zeugnisse einer „besseren Welt“, die er umso schärfer akzentuierte, wie er sie im 20. Jahrhundert mehr und mehr „in Vergessenheit und Missachtung geraten“ sah.

Der appellatorische, oft polemische, manchmal verzweifelte Ton, der als basso continuo all seinen wirtschaftspolitischen Schriften unterlegt ist, richtet sich daher nicht nur gegen die „dogmatische Ideologie unserer Gegner“, sondern vor allem an die, die den schleichenden Untergang des Liberalismus ungewollt, aber naiv, mit gut gemeinten Eingriffen in Markt und Wirtschaft, begünstigen.

Liberaler Missionar

Hayek und seine Schüler Quelle: Getty Images

Verstehen lässt sich die Leidenschaft von Hayeks Anti-Sozialismus nur, wenn man sich die dramatische politische Situation in den Vierzigerjahren vergegenwärtigt. In den letzten Kriegsjahren zeichnet sich ab, dass Kapitalismus und Kommunismus sich bald blockhaft gegenüberstehen werden: Marktwirtschaft gegen Planwirtschaft, Freiheit gegen Zwang, Individualismus gegen Kollektivismus. Die Teilung Deutschlands und Europas ist seit der Konferenz von Teheran (1943) beschlossene Sache, Stalins Sowjetunion dehnt ihren Machtbereich aus, in China kämpft sich Mao an die Spitze, das ehemals zum britischen Kolonialreich gehörende Indien verfolgt planwirtschaftliche Experimente. 40 Prozent der Weltbevölkerung leiden damals unter dem Diktat des Kommunismus, weitere 25 Prozent müssen teilweise sozialistische Volkswirtschaften erdulden.

In dieser Situation wird der Ökonom Hayek zum liberalen Missionar. Er hat in Fachkreisen Furore gemacht mit geldtheoretischen Arbeiten und einer Konjunkturtheorie, die alle makropolitische Steuerung ablehnt, sei sie nun angebotsorientiert (etwa über niedrige Zinsen wie bei Milton Friedman) oder nachfrageorientiert (über Konjunkturprogramme wie bei John Maynard Keynes) – aber das reicht ihm nicht mehr: Er will künftig ein Weltverbesserer sein, ein öffentlicher Philanthrop und Freiheitsfreund.

Hayek, in Wien geboren, zur Schule gegangen, studiert und zum Doktor der Rechte und der Politik promoviert, 1931 als erster Ausländer an die London School of Economics berufen und seit 1938 britischer Staatsbürger, sieht den Kalten Krieg der Systeme früh voraus – und veröffentlicht im März 1944 das Buch, das ihn auf einen Schlag berühmt macht (und wissenschaftlich diskreditiert): „Der Weg zur Knechtschaft“, eine leidenschaftliche Abrechnung mit Kollektivismus und (National-)Sozialismus, die gleichermaßen vom Gedanken beseelt seien, das Individuum zu einem „Werkzeug im Dienste der höheren Einheit“ herabzuwürdigen, um alle Tätigkeit des Menschen, „von der Wiege bis zur Bahre“, zu einer Frage der Weltanschauung zu machen.

Ausgangspunkt von Hayeks Streitschrift ist die provozierende These, dass „wirtschaftliches Kommando“ in Ermangelung eines funktionierenden Preissystems nicht nur ökonomisch ineffizient ist – das hatte schon Hayeks Lehrer und Mentor Ludwig von Mises bewiesen –, sondern prinzipiell totalitär: Plan und Lenkung des „Wirtschaftsdiktators“, so Hayek, beruhen auf einer Anmaßung von Wissen und Macht – und auf der „Herrschaft über die Mittel für alle unsere Ziele“. Für Hayek sind Stalinismus und Nazismus daher keine Gegensätze, sondern bloße Stilformen des Kollektivismus – und der deutsche Faschismus ist für ihn keine Reaktion der kapitalistischen Eliten auf sozialistische Trends in den Dreißigerjahren, sondern eine logische Folge der staatlichen „Organisierung des Wirtschaftslebens seit Bismarck“ – samt seiner kulturellen Diskreditierung des „englischen“ Kapitalismus, Liberalismus und Individualismus.

Wider die politische Korrektheit

Hayeks politische Unkorrektheiten, die im „Reader’s Digest“ die Runde machen und von George Orwell, John Maynard Keynes und Joseph Schumpeter wohlwollend aufgenommen werden, wirken bis heute verstörend. Als notorischer Gutmensch, dem es um die „Schaffung einer Welt freier Menschen“ geht, unternimmt er – auf dem Höhepunkt des Krieges gegen das deutsche Verbrecherregime – nicht einmal den Versuch zu verhehlen, dass er sich bereits im „ideologischen Krieg“ der Zukunft befindet: gegen die Sowjetunion, den damaligen Bündnispartner Großbritanniens, und gegen die „Sozialisten in allen Parteien“, die den Westen, namentlich England (Beveridge-Plan) und die USA (New Deal-Politik), in eine wirtschaftspolitisch-wohlfahrtsstaatlich abgesicherte Zukunft führen wollen.

Schwächen von Hayeks Denken

Bau der Berliner Mauer Quelle: dapd

Hayek ist der Auffassung, dass die westlichen Gesellschaften „von ihren eigenen Idealen und von dem, was sie von ihren Feinden trennt, nur verworrene Vorstellungen“ besitzen – und sucht sie davor zu bewahren, denselben Weg einzuschlagen, den das national-korporatistische Deutschland im Wilhelminismus eingeschlagen hatte. So wie altpreußischer Geist und sozialistische Gesinnung eine deutsche Volksgenossenschaft vorbereitet hätten, meinte Hayek, so befinde sich nun England – mit 50 Jahren Verspätung – auf der abschüssigen Bahn in Richtung Knechtschaft, weil es seine liberalen Grundsätze verrate.

Die große Schwäche von Hayeks Denken besteht darin, dass er es nie von dieser Rutschbahntheorie reinigte. Für die evolutorische Entwicklung von ökonomischen Mischsystemen, in denen die Sache der Freiheit vielleicht nicht gewinnt, aber eben auch nicht rettungslos verloren ist, hatte er keinen Sinn – und weil er als Kassandra des Sozialismus hinter jedem Zuwachs staatlicher Fürsorge eine strukturelle Freiheitsberaubung witterte und hinter jeder sozialpolitischen Maßnahme eine Gleichmacherei, die die Dynamik der Marktwirtschaft infrage stellt, ereilte ihn bald das Schicksal eines politmedialen Phrasenspenders.

Die forcierte Verve, mit der Hayek als kultisch verehrter Freiheitsprediger und leidenschaftlich verschriener Reaktionär gegen Staatsbeteiligungen, Umverteilungen, Gewerkschaften, soziale „Zwangsversicherungen“ und zuweilen auch ordnungspolitische Rahmensetzungen zu Felde zog, stand nicht nur in seltsamem Widerspruch zu einem Wohlstandswachstum, das dennoch stattfand; sie überschattete auch, viel schlimmer noch, die intellektuelle Brillanz seiner Theorie komplexer Ordnungen. Bis heute hat sich der weltabgewandte Gelehrte, der Hayek auch war, nicht von der politischen Übernutzung der Schlussfolgerungen erholt, die er fälschlicherweise aus den eigenen Grundsätzen ableitete.

Die Kohärenz und Dichte von Hayeks Argumentation macht seine Ordnungstheorie auch heute noch zu einem großen Leseabenteuer. Hayek erweitert den methodologischen Individualismus der Grenznutzenlehre (Carl Menger), indem er nicht nur nach dem subjektiven Nutzen eines Gutes für den wirtschaftlichen Akteur fragt, sondern auch nach den psychologischen Voraussetzungen menschlichen Verhaltens. Im Anschluss an David Hume versteht er „Die sensorische Ordnung“ (1952) des Menschen als ein adaptives System, das laufend Impulse aufnimmt, speichert, verarbeitet, klassifiziert – und dabei permanent Anpassungsleistungen vollbringt.

Eindrücke und Erfahrungen, aber auch bewusstlos-gewusste Traditionen und Gebräuche formieren sich zu einer subjektiven Wahrnehmung, die Hayek sich als kontinuierlichen, ungeplanten und offenen Prozess vorstellt. Kurzum: Die Perzeption der Welt ist subjektiv, adaptiv und evolutionär – und weil das so ist, kann Hayek nichts mit makroökonomischen Modellen anfangen,in denen mit Aggregatgrößen und Kollektiveinheiten operiert wird.

Stattdessen findet Hayeks sensorische Ordnung ihre wirtschaftswissenschaftliche Entsprechung in einer Art „methodologischen Mikroökonomie“. Hayek versteht die gesellschaftliche Ordnung als spontanen, ungesteuerten, interpersonellen Entwicklungsprozess, in dem unendlich viele Menschen unendlich viel ausprobieren, entwickeln, modifizieren und aussondern. Geld, Recht und Sprache etwa seien als Früchte des Fortschritts zwar das Ergebnis menschlichen Handelns, nicht aber das Ergebnis planvoller Vernunft.

Nur der Markt hält die Dinge im Fluss

Börse in Frankfurt am Main Quelle: dpa

Wirtschaftliche Lenkungsversuche hält Hayek daher nicht nur für ökonomisch unsinnig, sondern auch für eine Versündigung an der menschlichen Natur. Aller Planwirtschaft liege das rationalistisch-ingenieurhafte Missverständnis zugrunde, die Komplexität spontaner Ordnungen steuern zu können. Dagegen wendet Hayek ein, dass man sozialen Phänomenen – im Unterschied zu naturwissenschaftlichen – nicht mit szientistischen Mitteln beikommen könne. Alle Versuche, eine Gesellschaft auf Vernunft zu gründen (etwa Hobbes Gesellschaftsvertrag), sie an Ergebnissen zu messen (Utilitarismus) oder gar auf bestimmte Ziele hin zu verpflichten (Positivismus, Historismus, Marxismus), seien schon allein deshalb abzulehnen, weil sie auf methodisch falschem Grund stehen.

Das Entdeckungsverfahren

Nur der Markt, so Hayek, vermag die Dinge im Fluss zu halten, weil er das verstreute Wissen seiner Teilnehmer nicht zentralisiert, sondern koordiniert – und den dynamischen Prozess der ständigen Meinungsbildung fördert. Die Preise dienen dem Marktteilnehmer dabei als Informationssignale – sie eröffnen ihm die Möglichkeit, von objektiven Daten zu profitieren, die ihm allein nicht zur Verfügung stehen. Und der Wettbewerb ist vor allem deshalb ein „Entdeckungsverfahren“, weil er Waren, Güter, Moralvorstellungen und soziale Tatsachen ermöglicht, die heute noch unbekannt sind und daher nicht planvoll angesteuert werden können.

Die Vorteile des Wettbewerbs, so spitzt Hayek seinen Gedanken zu, ließen sich niemals messen – und das sei auch gut so, weil der Wettbewerb als abstrakte Ordnung keine Werte priorisiert, sondern den ständigen Wandel von Wertmaßstäben garantiert, die von der prinzipiellen Offenheit der Wettbewerbsergebnisse zugleich erzeugt und hervorgebracht werden. Konstitutiv für diese wettbewerbliche Ordnung, für die Hayek den Begriff „Katallaxie“ wählt, weil er „Marktwirtschaft“ für ein Oxymoron hält (Markt = Wettbewerb, Wirtschaft = Plan), ist eine blinde, „unmoralische“ Rechtsordnung, die einen verlässlichen „Dauerrahmen“ schafft, um die Kontingenz der „spontanen Ordnung“ zukunftsfest zu machen.

Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet Hayek mit seiner biologischen Vorstellung von Ökonomie als eines lernenden Systems in tagespolitischen Fragen zuweilen eine an Starrsinn grenzende Meinungsfestigkeit an den Tag legte. Hat er in seiner eleganten Ordnungstheorie nicht jeden Wahrheitsanspruch zurückgewiesen? Und wenn er den Einfluss des Staates auf gesellschaftliche Prozesse beklagte, die sich ehedem im liberalen „Kosmos“ selbst zurecht geruckelt hatten – warum verstand er dann die steuernde „Taxis“ der Regierenden, etwa bei der Formation des Wohlfahrtsstaates, nicht auch als Ergebnis eines evolutorischen Prozesses? Für einen entschiedenen Gegner rationalistischer Systeme war Hayeks Anti-Sozialismus jedenfalls reichlich totalitär: Die liberale Vernunft war unantastbar. Das ist schade, weil Hayek seinen Gegnern dadurch eine willkommene Entschuldigung bietet, an den sozialphilosophischen Prämissen seines Anti-Sozialismus vorbeizulesen. Als eine Art Schutzimpfung gegen politischen Machbarkeitswahn – noch dazu auf Pump – ist die Lektüre seines Werkes heute wichtiger denn je.

Dieser Text wurde erstmals im November 2011 veröffentlicht. Dies ist eine aktualisierte Version.

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