Tunesien Viele Tote bei Gefängnisbrand - Deutsche bald zu Hause

Bei einem Gefängnisbrand im tunesischen Küstenort Monastir sind mehrere Dutzend Menschen ums Leben gekommen. Nach dem blutigen Machtwechsel in Tunis bringen Reiseveranstalter viele der Tausenden deutschen Urlauber wieder nach Hause. In Tunis soll nun eine nationale Regierung der Einheit gebildet werden.

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Quelle: handelsblatt.com

HB TUNIS/PARIS/BERLIN. Die staatliche Nachrichtenagentur bezifferte die Zahl der Opfer bei dem Gefägnisbrand auf 42, Mediziner berichteten der Nachrichtenagentur dpa dagegen von bis zu 60 Toten. Nach ersten Erkenntnissen hatten verzweifelte Häftlinge ihre Matratzen in Brand gesteckt, um ihre Entlassung zu erzwingen. Die Flammen hätten dann schnell auf das gesamte Gebäude übergegriffen.

Als die Insassen zu fliehen versuchten, eröffneten Wärter nach Augenzeugenberichten das Feuer; mehrere seien an Schusswunden gestorben, andere verbrannt. Auch in der Stadt Kasserine stand ein Gefängnis in Flammen. Nach Augenzeugenberichten gelang es hier jedoch zahlreichen Häftlingen, rechtzeitig zu fliehen.

In Tunesien gibt es durch ein Machtvakuum nach der Flucht von Präsident Ben Ali zur Zeit zahlreiche Attacken gegen öffentliche Gebäude und Einrichtungen. In dem nordafrikanischen Urlaubsland herrscht der Ausnahmezustand.

Deutsche Tunesien-Urlauber bald wieder zu Hause

Reiseveranstalter haben am Samstag viele deutsche Urlauber aus dem Unruheland Tunesien wieder in die Heimat gebracht. Tausende Deutsche hatten in dem nordafrikanischen Land festgesessen, nachdem Präsident Zine el Abdine Ben Ali geflüchtet war und der Ausnahmezustand galt. Der Anbieter Thomas Cook setzte erneut Sondermaschinen ein, um die verbliebenen knapp 1800 Urlauber zurück nach Deutschland bringen, sagte Unternehmenssprecher Mathias Brandes. Rewe Touristik und Tui, die am Freitag zunächst keine Rückholaktionen gestartet hatten, entschieden am Samstag, ihre Reisenden doch heimzufliegen.

Außenminister Guido Westerwelle (FDP) geht davon aus, dass bis Ende des Wochenendes alle deutschen Touristen, die in die Heimat zurückkehren wollen, auch zurückgebracht werden können. Wichtig sei, Kontakt mit dem Reiseveranstalter oder Reiseleiter vor Ort aufzunehmen, um "koordiniert, besonnen und abgestimmt" zu handeln.

Urlauber sollten nicht auf eigene Faust die Rückreise antreten, sagte Westerwelle am Samstag in Berlin. Von Reisen nach Tunesien rate das Auswärtige Amt derzeit weiter ab.

"Die Lage ist für uns schwer einschätzbar", sagte Rewe-Touristik - Sprecher Tobias Jüngert. Rewe und Tui sagten zudem alle Tunesien- Reisen bis zum 24. Januar ab. Mit Thomas Cook können Kunden frühestens am 21. Januar wieder in das Land am Mittelmeer starten. In den kommenden Tagen können Urlauber ihre Reisen noch kostenlos umbuchen oder ganz absagen.

Auch das tunesische Fremdenverkehrsamt in Deutschland warnt vor Reisen in das von Unruhen erschütterte nordafrikanische Land. "Es ist zu gefährlich", sagte der Sprecher des Amtes, Sami Krandel, am Samstag am Rande der Tourismusmesse CMT in Stuttgart. "Zum Glück ist noch kein Tourist gestorben - bisher ist es eine rein nationale Angelegenheit. Ich glaube daran, dass eine neue Regierung Tunesien ein Stück Freiheit zurückbringen wird. Das wird das Image unseres Landes verbessern."

Der zwischenzeitlich gesperrte Luftraum über Tunesien war am Samstag wieder freigegeben worden. Mit einigen Sondermaschinen wollte Rewe Touristik seine rund 2100 deutschen Reisenden Flug für Flug zurückzuholen. Am Samstag sollten zunächst die Gäste von Monastir aus starten, am Sonntag von Djerba. Die Flüge wurden am frühen Abend in Berlin, München, Düsseldorf und einigen anderen Städten erwartet.

Auch für die ersten der rund 1000 deutsche Tui-Reisenden ging es am Samstag nach Hause, sagte Sprecher Mario Köpers. Am späten Nachmittag wurden die ersten Maschinen in Hannover und Frankfurt erwartet. Schon am Morgen waren zwischen den Touristenorten Transferbusse unterwegs zu den Hotels, um die Urlauber zu den Flughäfen zu bringen.

Nicht alle Touristen wollen ihren Urlaub abbrechen. "Es gibt in der Tat vereinzelt Gäste, die nicht zurückreisen möchten. Diesen Gästen machen wir deutlich, dass sie auf eigenes Risiko und eigene Kosten bleiben", sagte Tui-Chefreiseleiterin Ulla Buchert. Die "absolute Mehrheit" der deutschen Urlauber seien aber "sehr dankbar", das Unruheland zu verlassen, sagte der Sprecher von Thomas Cook.

Bereits am Freitag hatte Thomas Cook als erster Veranstalter rund 230 deutsche Touristen mit vier Sondermaschinen sicher nach Hause gebracht. "Wir konnten wegen der Ausgangssperre nicht alle Urlauber zum Flughafen bringen", sagte Sprecher Brandes. Ursprünglich waren für Freitag sechs Sondermaschinen geplant. "Über Nacht war es aber ruhig in den Hotels", sagte er. "Keiner unserer Gäste war direkt von den Unruhen betroffen - zum Teil haben sie aber Dinge mitbekommen."

Tunesien lockt vor allem Pauschalurlauber. "Preislich ist es eines der attraktivsten Ziele", sagte ein Tui-Sprecher. Mit All-Inklusive- Angeboten samt Strand und Animation ködern Reiseveranstalter vor allem Familien und Senioren. Im Moment sei aber Randsaison. Vor Beginn der Rückholaktionen waren nach Branchenangaben bis zu 8000 deutsche Urlauber in Tunesien.

Verhandlungen über Regierung der nationalen Einheit

Inmitten von Chaos und Gewalt haben in Tunesien Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung und vorgezogene Wahlen begonnen. Eine Koalition unter Beteiligung der Opposition soll das Land befrieden und das Machtvakuum füllen, das nach der 23-jährigen Regentschaft des außer Landes geflohenen Staatschefs Zine al-Abidine Ben Ali entstanden ist. In der Hauptstadt Tunis feuerten bewaffnete Angreifer am Samstag aus fahrenden Autos wahllos auf Passanten.

Ein Einkaufszentrum stand in Flammen. In der Innenstadt gingen Soldaten mit Panzern in Stellung, um nach den nächtlichen Plünderungen die Ordnung wiederherzustellen.Nach der Flucht Ben Alis ernannte der Verfassungsrat unterdessen Parlamentspräsident Fouad Mebazaa für eine Übergangszeit zu dessen Nachfolger. Mebazaa kündigte eine Regierung der nationalen Einheit an, binnen 60 Tagen sollen Präsidentenwahlen stattfinden.

In Militärkreisen wurde vermutet, dass Verbündete Ben Alis hinter den bewaffneten Angreifern steckten, die schießend durch die Stadt fuhren. Experten spekulierten über eine Beteiligung der Präsidentenpolizei. Im Zentrum von Tunis errichteten Soldaten Straßensperren. Nach der Flucht Ben Alis waren nach Angaben von Einwohnern marodierende Banden durch die Stadt gezogen, hatten Gebäude in Brand gesetzt, geplündert und Menschen angegriffen. In den Arbeitervierteln am Rande von Tunis bewaffneten sich Anwohner mit Metallstangen und Messern, um Plünderer abzuwehren.

Als Zeichen des Machtwechsels nahmen Arbeiter vor der Zentrale von Ben Alis RCD-Partei ein Porträt des ehemaligen Präsidenten ab, der nach wochenlangen Protesten mit Dutzenden Toten am Freitag ins saudi-arabische Dschidda geflohen war.

Frankreich hatte eine Einreise zuvor abgelehnt. In Tunesien wurden unterdessen Mitglieder von Ben Alis Familie laut Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi festgenommen.

Übergangspräsident Mebazaa beauftragte Ghannouchi mit der Bildung einer Koalitionsregierung. Der Ministerpräsident hatte zuvor mit Vertretern der Opposition gesprochen. Dabei habe Ghannouchi den Vorschlag einer Koalitionsregierung akzeptiert, sagte der Vorsitzende der Union für Freiheit und Arbeit, Mustafa Ben Jafaar. Am Sonntag sollten nach einem weiteren Treffen die Verhandlungsergebnisse verkündet werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte Übergangspräsident Mebazaa zu einem grundlegenden Politikwechsel auf. "Gehen Sie auf die protestierenden Menschen zu und führen Sie wirkliche Demokratie ein", erklärte sie. Menschenrechte, Presse- und Versammlungsfreiheit seien unabdingbar. Zugleich sagte Merkel die Unterstützung Deutschlands und der Europäischen Union für einen solchen Neuanfang zu.

Der Reiseveranstalter Thomas Cook hatte in der Nacht zum Samstag die ersten von etwa 2000 deutschen Touristen aus Tunesien nach Deutschland ausgeflogen. Auch der TUI-Konzern wollte seine Urlauber möglichst rasch zurückholen. Das Auswärtige Amt rät wegen der gespannten Lage von Reisen nach Tunesien ab.

Demonstranten wollen altes Regime verjagen

"Wir sind froh, nach 23 Jahren im Gefängnis frei zu sein", sagte Fahmi Bouraoui, der in einem der wenigen geöffneten Geschäfte in Tunis am Samstag einen Kaffee trank. Einige Demonstranten kündigten jedoch Widerstand gegen die Machthaber der alten Elite an. Sie wollen "den zivilen Ungehorsam fortsetzen, bis das Regime fort ist", wie Fadhel Bel Taher deutlich machte, dessen Bruder unter den Dutzenden Todesopfern der Proteste ist. "Die Straße hat gesprochen", sagte er.

Auch die Unternehmensberatung Eurasia erwartet trotz Ben Alis Flucht keine rasche Entspannung der Situation. "Wenn Ghannouchi keinen festen Zeitplan für vorgezogene Präsidentenwahlen verkündet und keine Übergangsregierung mit prominenten Oppositionspolitikern bildet, könnte dies die Menschen zurück auf die Straßen treiben", erklärte Eurasia.

Die Gewalt auf den Straßen von Tunis und die rasche Abfolge der Ereignisse versetzen die arabische Welt in Aufregung.

Zahlreiche autokratische Herrscher verteidigen dort zwar seit langem ihre Macht, geraten aber zunehmend unter Druck durch eine protestierende Jugend, wirtschaftliche Probleme und militanten Islamismus. Der Westen hat sich lange zurückgehalten, weil diese Machthaber als Bollwerk gegen den Islamismus gelten.

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