Urban Legends Die Mär vom Steuerdschungel

80 Prozent der Steuerliteratur stammen aus Deutschland? Unsinn. Ein Finanzforscher hat die Behauptung mit einem einfachen Maßband als Mythos entlarvt. Unser Steuersystem ist unkomplizierter als sein Ruf.

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Jedes Jahr ein Graus - die Steuererklärung. In anderen Ländern haben es die Steuerzahler aber auch nicht leichter als in Deutschland. Quelle: handelsblatt.com

Edmund Stoiber hat 2003 so argumentiert, Hans-Olaf Henkel gebrauchte das Argument drei Jahre später, und Guido Westerwelle führte es 2009 im Bundestagswahlkampf ebenfalls an: Die überwältigende Mehrheit der weltweiten Steuerliteratur sei auf Deutsch geschrieben, behaupteten alle drei mit dem Brustton der Überzeugung.

Stoiber sprach von "weit über 60 Prozent", Westerwelle gar von "70 bis 80 Prozent" - und das, obwohl weltweit nur zwei Prozent aller Steuerzahler aus Deutschland kämen. Alle benutzten die Anekdote als Beleg dafür, wie komplex, verworren und absurd das deutsche Steuersystem im weltweiten Vergleich doch sei. Stoiber: "Der einzelne Bürger hat kaum eine Chance, unser Steuersystem zu verstehen."

So schön und überzeugend die Anekdote zur Flut der deutschsprachigen Steuerliteratur aber auch klingt, sie hat einen kleinen Schönheitsfehler: Sie stimmt nicht. Es handelt sich um eine Räuberpistole, die seit vielen Jahren durch Talkshows, Wahlkampfreden und Leitartikel geistert, aber mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.

Die Geschichte ist ein klassisches Beispiel für das, was der US-Literaturprofessor Jan Harold Brunvand eine "urban legend" nennt - eine moderne Sage, die frei erfunden ist, aber immer und immer wieder weitererzählt wird. Berühmte Beispiele dafür sind die Geschichten von der Vogelspinne, die sich in der Wurzel einer Yucca-Palme versteckt hat, und von der Amerikanerin, die angeblich ihre nasse Katze in der Mikrowelle trocknete und eine Entschädigung von mehreren Millionen Dollar bekommen haben soll, weil die Bedienungsanleitung des Geräts davor nicht gewarnt hatte.

In Wahrheit hat kein US-Gericht jemals über solch einen Fall entschieden. Das haben die beiden amerikanischen Wissenschaftler Georg Wenglorz und Patrick Ryan in einer Studie gezeigt.Ähnlich wie Wenglorz und Ryan sind mehrere deutsche Experten der Steuergeschichte auf den Grund gegangen.

Einer von ihnen ist der Tübinger Professor Franz Wagner. Seine Ergebnisse hat er gemeinsam mit seiner Koautorin Susanne Zeller in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "Perspektiven der Wirtschaftspolitik" zusammengefasst. Wagners Fazit fällt eindeutig aus: "Keiner weiß, wer diese Steuergeschichte in die Welt gesetzt hat, es gibt keinerlei empirische Belege für sie."

Der inzwischen emeritierte Finanzforscher Albert Rädler hat die Behauptung mit einem einfachen Maßband als Mythos entlarvt. Rädler stieg in die Bibliothek des Amsterdamer International Bureau of Fiscal Documentation (IBFD), eine der umfassendsten Sammlungen von Steuerliteratur weltweit. Dort maß er aus, wie viele der insgesamt 2000 Regalmeter auf Bücher und Zeitschriften entfallen, die sich mit dem deutschen Steuerrecht beschäftigen.

Warum die Mär nicht totzukriegen ist

Das Ergebnis: Nur etwa 200 Meter, also zehn Prozent. Eine Auswertung der elektronischen Bestände ergab einen Anteil von knapp 15 Prozent. Die gebetsmühlenartig wiederholte Beschwerde über das zu komplizierte deutsche Steuerrecht ist an den Haaren herbeigezogen, sind auch Wagner und Zeller überzeugt. Ein weiterer Beleg dafür sei eine Studie der Weltbank und der Beratungsfirma PwC, die den Umfang der Unternehmensteuergesetze in verschiedenen Ländern verglichen hat. In Deutschland passen die Bestimmungen und Paragrafen auf 1700 Seiten - die Vereinigten Staaten dagegen brauchen 5100 Seiten, Japan gar 7200. Deutsche Unternehmen benötigen laut einer weiteren Studie deutlich weniger Zeit als ihre Konkurrenten in Nachbarländern, um zu ermitteln, wie viel Steuern sie zahlen müssen.

Auch das alljährliche Stöhnen über die Einkommensteuererklärung erscheint im internationalen Vergleich überzogen. Ein Forscherteam um Kay Blaufus von der Europa-Universität-Viadrina in Frankfurt/Oder beziffert den Zeitaufwand in einer empirischen Untersuchung auf 5,7 Stunden pro Haushalt. "Vergleichbare Studien zeigen, dass Steuerzahler in Australien oder den USA erheblich länger benötigen", betont Wagner.

Warum die Mär vom undurchdringbaren deutschen Steuerdschungel trotz allem nicht totzukriegen ist? Der Hamburger Forscher Albert Rädler spekuliert in seiner Studie über einen "gewissen deutschen Steuermasochismus" - womöglich hätten wir schlicht eine Vorliebe dafür, uns über alles, was mit dem Finanzamt zu tun hat, übermäßig schwarz zu ärgern.

Die Art und Weise, wie Steuergesetze in Deutschland gemacht werden, fördert womöglich diese Unzufriedenheit. Dafür spricht eine Studie von drei Forschern der Frankfurter Goethe-Universität. Frank Blasch, Tina Klautke und Alfons Weichenrieder untersuchten Steuergesetze, die zwischen 1951 bis 2004 erlassen wurden und stellten fest: Fast jede vierte Neuregelung tritt im Dezember in Kraft. Steuerzahler und ihre Berater hätten dadurch wenig Zeit, sich auf Neuerungen einzustellen. Diese "Beschlussfassung kurz vor Toresschluss" dürfte "zum Ärger über das deutsche Steuerrecht besonders beitragen", vermutet das Forschertrio.

Auch wenn die deutsche Steuerliteratur bei weitem nicht so ausschweifend ist wie gemeinhin angenommen - sie könnte noch dünner sein: "Es wird eindeutig zu viel produziert", bemängelt Forscher Wagner. Ein Beispiel dafür sei die Fachliteratur zur 2008 eingeführten "Thesaurierungsbegünstigung" - an sich "ein Rechenexempel, das nur einmal gelöst werden muss", so Wagner. Zwei bis drei gute Studien würden reichen, um das Thema erschöpfend zu behandeln. Er zählte allerdings 114 Aufsätze dazu. Die meisten lieferten keinerlei neue Erkenntnisse.

Viele Anwälte und Berater würden wissenschaftliche Aufsätze als Marketinginstrument nutzen, vermutet Wagner. Weil ihnen herkömmliche Werbekanäle versperrt seien, würden sie versuchen, potenzielle Klienten über Fachliteratur auf sich aufmerksam zu machen.

Ob es jemals gelingt, die Legende von der Flut der deutschen Steuerliteratur auszurotten? Trotz der zahlreichen Argumente macht sich Wagner keine großen Hoffnungen: "Selbst mein Physiotherapeut behauptet, zwei Drittel der Steuerliteratur seien aus Deutschland."

Links zum Download der zitierten Studien: klicken Sie hier.

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