Wirtschafskrise In Putins Reich ist Askese angesagt

Russlands Regierung fürchtet den Rückschritt: Die Wirtschaftskrise gefährdet die seit Jahren anhaltenden Konstanten Wachstum und Wohlstand. Weil ihr die wirtschaftlichen Probleme über den Kopf wachsen, sucht die russische Führung nun verstärkt die Kooperation mit den westlichen Ländern.

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Auch die Position von Russlands starkem Mann, Wladimir Putin, wird durch die Krise geschwächt - im Kreml steigt die Nervosität. Quelle: dpa

MOSKAU. Unsere Außenpolitik ist klar. Es ist eine Politik, die Frieden erhalten und die Handelsbeziehungen mit allen Ländern ausbauen will. Diejenigen, die versuchen, unser Land anzugreifen, werden einen tödlichen Schlag erhalten, um sie davon abzuhalten, ihre Schnauzen in unseren (...) Hinterhof zu stecken." Es ist das Jahr 1934, und Josef Stalin hält eine Rede, in der er auch seine Position zu der großen Krise formuliert, die in den vorausgegangenen Jahren die Weltwirtschaft beutelte. Diese, so erklärt er weiter, habe sich auf Kredite und Liquidität ausgewirkt sowie die finanziellen Beziehungen zwischen den Ländern auf den Kopf gestellt. In diesem "Sturm" stehe die Sowjetunion allein "wie ein Fels".

74 Jahre später hat sich Russland zwar grundlegend gewandelt. Doch die russische Führung griff auch in jüngster Zeit gerne auf ähnliche Formulierungen zurück - sei es während des Georgienkriegs oder als Reaktion auf die Weltfinanzkrise.

Der starke Mann im Land, Premierminister Wladimir Putin, sah Russland lange Zeit als den "sicheren Hafen" in der Krise. Und der Feind steht immer noch draußen. Kremlchef Dmitrij Medwedjew ließ in seiner ersten Ansprache zur Lage der Nation keinen Zweifel daran, wer die allein Schuldigen an der aktuellen Finanzmisere und dem Kaukasuskonflikt seien: die USA.

Die starken Töne just am Tag nach der US-Präsidentenwahl zeigen nicht nur die anhaltende Fixierung auf den ehemaligen Erzfeind jenseits des Atlantiks. Sie enthüllen vor allem eines: Unsicherheit. Heute kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Russland tief in die Finanzkrise hineingerutscht ist. Die OECD hat ihre Wachstumsprognose für 2009 bereits auf 2,3 Prozent gesenkt - nachdem der Boom der Rohstoffpreise Russland jahrelang Raten um sieben Prozent beschert hatte. Manche Analysten sehen die Aussichten sogar noch trüber: Sollte der Ölpreis 2009 bei rund 50 Dollar verharren, wie Finanzminister Alexej Kudrin schätzt, erwartet Wladimir Osakowskij von Unicredit in Moskau sogar nur noch magere 0,5 Prozent. Es vergeht kaum eine Woche, in der die Prognosen nicht fallen: Mitte Dezember räumte das Wirtschaftsministerium erstmals ein, dass sich das Land bereits in einer Rezession befinde.

Solange nur die Kurse an der russischen Börse purzelten, konnte die Führung nach innen leicht den Anschein von Normalität aufrechterhalten. Schließlich haben nur drei Prozent aller Russen Aktien. Die staatlichen Medien durften nicht von "Krise" sprechen, in Russland gab es nur "Folgen": Die Probleme blieben außen vor. Einen Monat später, als sich Putin in einer "Sprechstunde" im Fernsehen den inszenierten Fragen seiner Mitbürger stellt, verheißt er zwar auch ein gutes Ende. Doch die Themen, die er anspricht, haben plötzlich eine ganz neue Gewichtung. Da fallen auf einmal Stichworte wie "Massenarbeitslosigkeit": Es hat keinen Zweck mehr zu leugnen.

So steigt die Nervosität im Kreml und damit die Bereitschaft zum Kurswechsel. Ob in Brüssel, Washington oder Moskau - westliche Diplomaten registrieren, wie Russland auf Kooperation schaltet. So präsentiert sich Außenminister Sergej Lawrow, bis dato um wortgewaltige Ausfälle nie verlegen, europäischen Wirtschaftsbossen betont aufgeschlossen: Russland sei bereit, einen gemeinsamen wirtschaftlichen Raum mit Europa und den USA zu gründen. Nur gemeinsam lasse sich die Krise überwinden. Die Zeit für geopolitische Sandkastenspiele sei vorbei, schließlich gehe es nun vor allem darum, "Arbeitsplätze zu retten".

Die Krise hat die Pläne der Führung kräftig durcheinandergebracht. Sie muss sich jetzt umso mehr sorgen, ihre Versprechungen gegenüber der Bevölkerung erfüllen zu können: die stetige Steigerung des Wohlstandes, das konstante Wachstum. Russland, so lautet aber nach wie vor der Tenor, soll im Jahr 2020 eine der führenden Industrienationen der Welt werden, eine moderne Wissensgesellschaft.

Rückschritte wie sinkende Löhne, ein fallender Rubel, steigende Arbeitslosigkeit oder soziale Verwerfungen passen da jedoch nicht ins Bild. "Das politische Kapital der russischen Führung beruht vor allem auf dem Kontrast zu den chaotischen und schwierigen neunziger Jahren, den sie den Menschen immer wieder deutlich macht", sagt ein russischer Bankmanager. Jede Reminiszenz an die schwere Währungskrise vor zehn Jahren, die Millionen Menschen ihre Ersparnisse kostete, untergräbt ihre Glaubwürdigkeit. Boris Krawtschenko vom Institut für Globalisierung und soziale Bewegung erwartet, dass die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wachsen wird: 2009 werde es eine stürmische Zunahme von Protesten geben. Bröselt der Konsum-Kitt der Gesellschaft, könnte es für das Putin?sche System durchaus eng werden.

Das Leben vieler Russen mag in den vergangenen Jahren deutlich besser geworden sein. Rund die Hälfte der Bevölkerung gibt an, dass sie genug Geld für Kleidung und Essen hat. Größere Anschaffungen bleiben aber schwierig.

"Die Regierung fürchtet vor allem eines: hohe Arbeitslosigkeit", sagt ein hochrangiger europäischer Diplomat in Moskau. Derzeit liegt sie bei rund sechs Prozent. Angesichts der Pläne vieler Unternehmen, bis zu einem Drittel ihrer Stellen abzubauen, dürfte dies nicht das Ende sein. Eine Prognose der staatlichen VTB Bank rechnet inzwischen mit elf Prozent für 2009.

Auf die russische "Tandemokratie", die Doppelspitze aus Präsident und Premier, kommen damit erhebliche Belastungen zu. Wie das Gespann Putin-Medwedjew diese bewältigt, gemeinsam oder doch gegeneinander, ist noch keinesfalls absehbar. Denn noch nie hat es in der russischen Geschichte den Versuch eines Rollentauschs an der Staatsspitze gegeben, bei dem ein selbstbewusster und einflussreicher politischer Führer wie Putin in die zweite Reihe tritt.

Die Beziehungen innerhalb des Tandems werden stark davon abhängen, wer von der Öffentlichkeit für die wirtschaftlichen Folgen verantwortlich gemacht wird. Ob sich Medwedjew mittelfristig mit der Rolle eines Erfüllungsgehilfen begnügen wird, bleibt offen.

Andrej Rjabow von der Gorbatschow-Stiftung hält beide Varianten für denkbar: die einer engeren Kooperation, wenn beide Politiker die Situation als für sich gefährlich einstufen und zusammenrücken. Oder das Gegenteil: mehr Konkurrenz, wenn sich die öffentliche Unzufriedenheit auf den einen stärker als auf den anderen konzentriert. Dennoch: Die "Tandemokratie" arbeitet bisher zumindest nach außen störungsfrei.

Wie stark aber nach Ausbruch der Finanzkrise die Unsicherheit innerhalb der politischen Führung zugenommen hat, bewies der überraschende Vorstoß Medwedjews, die Amtszeit des Präsidenten von vier auf sechs Jahre zu verlängern und dem Parlament eine stärkere Kontrolle über die Regierung zu geben. In Windeseile goss der politische Apparat die Vorschläge in Gesetze und nährte so Spekulationen, dass Putin, sollte die Wirtschaftskrise Russland noch stärker treffen als erwartet, frühzeitig in den Kreml zurückkehren und dort gleich zwölf Jahre verweilen könnte. Putin trat Gerüchten über vorzeitige Wahlen aber entgegen.

Nach wie vor sind die persönlichen Zuspruchsraten für Putin wie für Medwedjew ungebrochen hoch. Vor allem während des Georgienkriegs konnte der junge Präsident Pluspunkte sammeln, obwohl sein Ministerpräsident zunächst das Heft des Handelns in der Hand hielt. Doch die Einstellung vieler Russen zu Staat und Regierung trägt stark paradoxe Züge. Sosehr sie ihre "Führer" bewundern - sie verachten ihren Apparat: Nach einer Studie des Soziologen Michail Gorschkow sagen 41 Prozent der Befragten den Beamten Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen des Landes nach. Und der Aufbau der "Machtvertikalen" unter Putin hat die Zahl der Bürokraten erheblich aufgebläht: Sie ist heute größer, als sie in der gesamten Sowjetunion war. Die Untersuchung Gorschkows zeigt auch, dass Russlands Beamte sich zunehmend als eine "Klasse" begreifen, die ihre eigenen Interessen denen der Gesellschaft entgegenstellt. So ist es kein Wunder, dass Russlands Unternehmer in einer Umfrage des Wirtschaftsministeriums zu Beginn des Jahres 2008 die korrupte und ineffiziente russische Bürokratie und ihre zunehmende Einmischung in die Wirtschaft als die größten Herausforderungen für das Land beschreiben.

Sicher ist: Im Putin?schen System sind so gut wie alle Ventile für sozialen und politischen Unmut geschlossen. Das Fehlen echter politischer Mitbestimmung treibt die Menschen in den Zynismus. Es hat der Führung aber auch selbst den Raum genommen, politisch zu manövrieren oder neue Talente einzubinden. Zwar hat Medwedjew in seiner Ansprache an die Nation graduelle Reformen am föderalen System in Aussicht gestellt. Der Forderung, die Gouverneure in Zukunft aber wieder wählen zu lassen, erteilte er eine barsche Absage. Die relativ kleine politische Elite des Landes möchte unter sich bleiben.

Was nun? Im besten Fall führt der Druck der Wirtschaftskrise dazu, dass die Führung nun wieder die Reformen anpackt, die sie in den Zeiten des Booms sträflich vernachlässigt hat: den Aufbau verlässlicher Institutionen, den Kampf gegen die inzwischen alle Lebensbereiche immer stärker durchdringende Korruption - kurz, ein besseres Investitionsklima schafft. An guten Worten hat es bisher nicht gefehlt. Doch kurz nachdem Medwedjew in seiner Ansprache ein Loblied auf die Pressefreiheit sang, begann die Staatsanwaltschaft die Wirtschaftspresse stärker unter die Lupe zu nehmen, um "Informationsangriffe" auf Banken zu verhindern.

Doch die Reformen müssen kommen. Ohne sie wird Russland der Anschluss an die Weltspitze nicht gelingen.

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