Produktion Synonym für Konsequenz

Toyotas Werke gelten in Qualität, Effizienz und Wirtschaftlichkeit als das Maß der Branche. Ein Blick hinter das Erfolgsgeheimnis. 

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Es geht gemächlich zu in Toyotas Motomachi-Fabrik in Toyota-City, rund zwei Schellzugstunden von der Hauptstadt Tokio entfernt. Keine Hast, kein Geschrei. Ein Klingklang, das an ein Kinderkarussell erinnert, erfüllt die Hallen. Die Frauen und Männer erkennen an den Melodien den Takt der Bänder. Stimmt etwas nicht, wie jetzt bei Wagen 11, einem Toyota Crown, schwillt der Ton an und signalisiert: Das Band steht. Sofort stecken ein Montageexperte und der Teamchef die Köpfe zusammen und beheben den Fehler. Das Band rollt wieder an. Mehrfach an diesem Vormittag ziehen Monteure die Reißleine, weil es Probleme gibt, springt die riesige Anzeigentafel unter der Hallendecke von Grün auf Gelb oder Rot. 

Der Mann, der mit seinem Wägelchen Paletten mit Vorderachsen ankarrt, muss wieder umkehren, es sind noch genug vorrätig. „Er hätte nicht losfahren dürfen“, kritisiert Generalmanager Kenji Miura. Jeder müsse sich anpassen, wenn die Linie steht. „Vielleicht hätte der Schichtleiter die Mittagspause auch zwei Minuten vorverlegen sollen“, sinniert Toyotas oberster Produktionsoptimierer. „Synchronisation ist das Wichtigste.“ 

Keine unnötige Bewegung, keine Minute vergeuden, keinen Platz verschwenden, kein Teil zu viel einkaufen – so lauten die Spielregeln, mit denen der Autobauer seine Produktion auf höchste Effizienz trimmt. Mit dieser Philosophie ist der Konzern vom Hersteller von Webstühlen zum, gemessen an der Börsenkapitalisierung, größten Autobauer der Welt aufgestiegen. 1936, lange nach den Konkurrenten Daimler, Ford und GM, präsentierte das Unternehmen seine ersten Modelle. Heute verkauft nur noch GM weltweit mehr Autos als Toyota, die Wachablösung ist absehbar. In Sachen Zuverlässigkeit, Wirtschaftlichkeit und Gewinn ist der Konzern dank seines legendären Toyota-Produktionssystems (TPS) zum Maß der Branche geworden. 

Auf den ersten Blick ist nicht erkennbar, was das System so einzigartig macht, dass es bis heute keinem Rivalen gelungen ist, es zu kopieren. Selbst das Motomachi-Werk, in dem die Premiummodelle Crown, Mark X, Brevis und Progrès gebaut werden, sieht aus wie eine x-beliebige Autofabrik. Es ist kein High-Tech-Palast, in dem futuristische Roboter herumschwirren. Die Arbeiter schuften sich weder die Seele aus dem Leib, noch rennen sie mit dem Fließband um die Wette. 

In der benachbarten Takaoka-Fabrik hat das Management eine neu gestaltete Fertigungslinie aufgebaut, Global New Body Line (GBL) genannt, die einen weiteren Produktivitäts- und Qualitätsschub bringen soll. Sie ist höher automatisiert. Rund 1000 Roboter schweißen frisch gepresste Bleche zu Karosserien zusammen. Acht verschiedene Modelle können auf der Linie gebaut werden; umgerüstet wird über Nacht. Nach einer Revolution in der Autofertigung schaut es aber auch hier nicht aus. 

Viel bemerkenswerter finden Toyotas Ingenieure, dass sie die Investitionen, die laufenden Kosten und den Platzbedarf im Vergleich zu den bisherigen Fertigungslinien halbieren konnten. Geschafft haben sie das kleine Wunder, indem sie die in den anderen Werken täglich erarbeiteten kleinen Verbesserungen hier zu einem neuen hochleistungsfähigen Gesamtsystem zusammengeführt haben. Die Montage bleibt weiter Handarbeit. Das sichert die Flexibilität bei einem Modellwechsel. Roboter müssten erst umprogrammiert werden; die Werker wissen sofort, was für ein Auto sie zu bauen haben. 

Toyota-Managementerfindungen wie „lean production“ (schlanke Produktion) haben die Autowelt seit den Siebzigerjahren mächtig aufgemischt. DaimlerChrysler, Opel und neuerdings auch VW haben eigene Produktionssysteme aufgebaut und darin viele der Toyota-Prinzipien integriert. Auch andere Branchen wollen vom sagenhaften Erfolg profitieren. Der Elektronikkonzern NEC wendet Toyota-Fertigungsmethoden bei der Herstellung seiner Su- a percomputer an und Sony reorganisiert die Zulieferkette nach dem Modell Toyota. Doch noch hat kein Nachahmer das Original erreicht, geschweige denn übertroffen. 

Der Kostenvorsprung Toyotas gegenüber anderen Massenherstellern von Autos beträgt zwischen 500 und 600 Euro pro Fahrzeug. Das hat Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des Center Automotive Research (CAR) an der Fachhochschule Gelsenkirchen, ausgerechnet. Drei Viertel des Vorteils beziehen die Japaner aus ihrer überlegenen Produktion (siehe Grafik). „Kein anderer Hersteller durchforstet seine Fertigung so systematisch, gründlich und mit niemals erlahmendem Eifer nach Einsparpotenzialen“, sagt Dudenhöffer. „Toyota ist das Synonym für Konsequenz“, pflichtet Porsche-Chef Wendelin Wiedeking bei. 

Neidisch versucht die Konkurrenz in immer neuen Anläufen, den Abstand zu verringern. „Das Rätsel Toyota gleicht schon der Suche nach dem heiligen Gral“, sagt Joerg von Eberstein, Technikmanager bei der Volkswagen-Tochter in Japan. An besonderen Anlagen liegt es nicht, die unterscheiden sich kaum von denen der Rivalen. „Unser Erfolg basiert auf der Organisation der Arbeitsabläufe, auf der Qualität und der Motivation der Mitarbeiter“, erklärt Kenji Miura, Chef von Toyotas Operations Management Consulting Division (OMCD), das anscheinend Geheimnisvolle auf unspektakuläre Weise (siehe Interview Seite 98). 

Miuras jüngste Innovation ist das so genannte Set-Part-System (SPS). Dabei bekommen die Montagearbeiter Teile in Kästen direkt ans oder ins Auto gestellt und holen sie sich nicht mehr aus Regalen neben dem Band. So können sie sich ganz auf den Einbau konzentrieren, brauchen nicht mehr so oft aus dem Wagen herauszuklettern. Der Wegfall der Regale schafft zudem Platz für zusätzliche Bandarbeiter und Linien. „Jeder Schritt zu viel, das Strecken eines Armes oder eine unnötige Drehung, die das Produkt nicht verbessern, aber den Arbeiter ermüden, wollen wir eliminieren“, beschreibt Miura seine Philosophie. Alles dreht sich darum, „muda“, Verschwendung, zu vermeiden. SPS reduziert die Montageschritte von 155 auf 120 – eine ungeheure Beschleunigung und Vereinfachung. 

Drei Werke in Japan erproben derzeit SPS und suchen nach der „idealen Linie“. Ist sie gefunden, wird sie standardisiert und dann global in allen Werken eingeführt. 

Bei Nippons Vorzeigekonzern, so hat Professor Stephen Spears von der Harvard-Universität in den USA beobachtet, „konzentriert sich alles auf kleine, einfache Experimente“. Wie viel Montagezeit spart es beispielsweise ein, wenn ein Ständer mit Bauteilen nach da oder dort verrückt wird? Vier oder sechs Sekunden? Wie kann die Wartung einer Maschine verbessert werden, damit sie möglichst nie ausfällt? Die Firmenphilosophie „Kaizen“ – die kontinuierliche Verbesserung bis ins kleinste Detail – führt zu einem einmaligen Innovationstempo in der Produktion, sagt Spears, der versucht, die „DNA von Toyota zu entschlüsseln“. 

Vertreter deutscher Autofirmen in Japan rühmen vor allem das Engagement der Belegschaften, das einmalig sei. Und beileibe kein Zufallsprodukt. Die Japaner zeichnet eine beispiellose Geduld aus. „Es dauert seine Zeit, bis Mitarbeiter das Toyota-System und die Toyota-Denkweise verinnerlicht haben“, sagt Koji Kobayashi, Chef des türkischen Toyota-Werkes in Ankara, das als das Werk mit der besten Produktqualität im Konzernverbund gilt. „Zehn bis zwölf Jahre sind eine gute Zeit“, sagt der CEO. 

Bei Toyota ist nicht nur das Topmanagement gefragt, Veränderungen in Gang zu setzen. Auch jeder Arbeiter ist aufgefordert, Ideen zur Optimierung der Arbeitsprozesse beizusteuern. „Würden wir das allein den Bossen überlassen, würden viele Ansätze zwangsläufig übersehen“, sagt Produktionsguru Miura. 530 000 Ideen sind im vergangenen Jahr eingereicht worden, durchschnittlich elf von jedem Toyota-Mitarbeiter. „90 Prozent davon setzen wir um“, betont Miura. Kleinere Änderungen werden sofort mit dem Chef des jeweiligen Teams eingeführt, größere nach Abstimmung mit dem Management. 

Die Beschäftigten erhalten für ihre Vorschläge neben viel Lob auch Prämien in Höhe von umgerechnet fünf bis 3000 Euro, je nachdem, welche Einsparung die Idee ermöglicht. „Das ganze System funktioniert aber vor allem, weil die Kommunikation zwischen den Teams und den Chefs stimmt“, sagt Miura. Die wird wie vieles bei Toyota mit philosophisch anmutenden Begriffen umschrieben. „Genchi Genbutsu“ etwa meint, dass sich der Boss jedes ernsthafte Probleme mit eigenen Augen anschaut. 

Im Motomachi-Werk verlässt derzeit alle 77 Sekunden ein Wagen das Band. Es ginge schneller, doch die Produktion läuft bewusst gedrosselt. Das Tempo entspricht der aktuellen Nachfrage nach den hier produzierten Stufenheck-Limousinen. Die 3600 Arbeiter arbeiten im Ein-Schicht-Betrieb mit einer einstündigen Mittagspause und zehnminütigen Unterbrechungen alle zwei Stunden. „Masse und pure Produktivität stehen bei uns nicht an erster Stelle, Priorität haben Effizienz und Qualität“, betont Produktionslenker Miura. Deshalb zögern die Monteure keine Sekunde, sofort die Reißleine zu ziehen, wenn ein Problem auftritt. Es hagelt weder Kritik für die Produktionsunterbrechung, noch brauchen die Werker einen Lohnabzug zu befürchten – im Gegenteil: Sie ernten Lob. „Es ist viel aufwendiger, wenn ein fehlerhafter Wagen später nachgebessert werden muss“, sagt Miura und lächelt. 

Das Motomachi-Werk liegt nur fünf Kilometer vom Hauptsitz in Toyota-City entfernt. Um die Konzernzentrale in der mitteljapanischen Aichi-Präfektur ballen sich 12 der insgesamt 15 japanischen Werke. Unter den Belegschaften fallen die vielen europäischen Gesichter auf. Die Werker und Manager vom alten Kontinent lernen dort und am „Toyota Institut“, einer Art Firmenuniversität, die Unternehmenskultur kennen. Am Ende der Lehrzeit haben sie vor allem eine Philosophie verstanden: Jedes betriebliche System lässt sich verbessern, wenn jeder dazu bereit ist. a 

Angela Köhler/Tokio 

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