Blick hinter die Zahlen #20 – Weichtiere Warum Deutschland jetzt massiv Muscheln exportiert

Nach jahrelangen Problemen boomt plötzlich die deutsche Muschelzucht. Voriges Jahr wurden hierzulande sogar mehr Muscheln gezüchtet als Fische. Bei der Suche nach den Gründen kommen jedoch selbst Muschelzüchter ins Grübeln.

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Die Deutschen lieben Fisch, knapp zwölf Kilo verspeist jeder Bundesbürger davon rein statistisch pro Jahr. Krebs- und Weichtiere liegen mit etwa 1,5 Kilo pro Person weit abgeschlagen dahinter. Umso mehr überraschte eine kleine Meldung, die Ende Mai über die Newsticker lief: Demnach wurden voriges Jahr in Deutschland mehr Muscheln gezüchtet als Fische.

Knapp 19,5 Millionen Kilogramm Weichtiere brachten Deutschlands Aquakulturen demnach voriges Jahr hervor, gegenüber nur 18,5 Millionen Kilogramm Fisch. Anfang der 2010er-Jahre war die Fischzucht noch viermal so ertragreich wie die Muschelzucht. Während die Menge Fisch jedoch weitestgehend konstant geblieben ist, ist sie bei Muscheln massiv angestiegen.

Erzeugung in Aquakulturen im Vergleich

Wie lässt sich der plötzliche Muschelboom erklären?

Einer, der es wissen muss, ist Paul Wagner, stellvertretender Vorsitzender der Erzeugerorganisation der schleswig-holsteinischen Muschelzüchter. Immerhin kamen knapp 17 Millionen Kilo der letzten Rekordernte aus Schleswig-Holstein. Niedersachsen, das vor neun Jahren noch ähnlich viele Muscheln züchtete, kam zuletzt gerade einmal auf ein Siebtel dieses Wertes.

Weichtiere, die in Deutschland in Aquakulturen gezüchtet werden

Als Anfang der 2010er-Jahre die Muschelerträge drastisch abnahmen, machten sich die Muschelzüchter auf die Suche nach den Gründen. Mithilfe von Biologen fanden sie schließlich eine Erklärung: die immer wärmer werdende Nordsee. Oder genauer: die Krebstiere darin.

Die fressen nämlich besonders gerne kleine Babymuscheln, so erzählt es Wagner. Wird es im Winter kalt, ziehen die Krabben aus dem Wattenmeer weg in wärmere Gewässer. Die Babymuscheln haben dann genug Zeit zu wachsen, bis ihre Schalen hart genug sind, um sie vor den Krebsen zu schützen.

Wegen der Erderwärmung blieben die Krabben nun aber das ganze Jahr über – und dezimierten so die Muschelpopulationen. „Die Muschelzucht ist abhängig vom Nachwuchs“, erklärt Wagner. Gibt es wegen der Krabben kaum Jungmuscheln, gibt es später eben kaum Muscheln zu ernten.

An diese Erklärung glaubten die Muschelzüchter, bis die Zahl der Muscheln in den vergangenen Jahren plötzlich massiv anstieg. Trotz der Krabben.

Nun sind Wagner und seine Muschelzüchterkollegen ratlos, welche verborgenen Mechanismen ihre Muschelzucht so stark beeinflussen. „Wir tappen völlig im Dunkeln.“ Ohnehin nehmen sie den neuen Muschelboom aber ebenso stoisch hin wie die Jahre der Flaute zuvor. Ihr Geschäftsmodell hängt von Dingen ab, die sie nicht beeinflussen können, schon ein großer Sturm kann die Muschelpopulation eines ganzen Jahres vernichten.

Weichtiere, die in Deutschland in Aquakulturen gezüchtet werden

Diese Krisenanfälligkeit kann ihnen auch in die Hände spielen, wie die schleswig-holsteinischen Muschelzüchter voriges Jahr erlebten. Auch die Konkurrenz in den Niederlanden steuerte auf ein Boom-Jahr zu, erzählt Wagner, er und seine Kollegen machten sich schon Sorgen um die Preise, die sie noch erzielen könnten.

Dann raffte eine mysteriöse Krankheit 90 Prozent der niederländischen Muscheln dahin und Wagner und seinen Kollegen gehörte plötzlich der Markt. So konnten sie nicht nur eine Rekordmenge an Muscheln verkaufen, sondern das wegen der fehlenden Konkurrenz aus Holland auch noch zu Rekordpreisen.

Denn die Muscheln aus Schleswig-Holstein werden zu 100 Prozent in die Niederlande exportiert, wo sich spezialisierte Firmen darum kümmern, sie von Sand, Kalk und den bei Muschelfreunden sehr unbeliebten „Bärtchen“ zu befreien. Dann reexportieren die Niederländer sie wieder nach Deutschland.

Auch wenn sie zuletzt zu den Profiteuren gehörten, wollen sich die schleswig-holsteinischen Muschelzüchter künftig möglichst vor den Gefahren durch Umwelteinflüsse schützen. Bei Stürmen ist das schwierig, doch bei den gefräßigen Krabben sind sie optimistisch, einen Weg gefunden zu haben.

Die kleinen Krebstiere können nicht höher als etwa einen halben Meter über den Boden steigen, erzählt Wagner. Deshalb haben die Muschelzüchter begonnen, Muschellarven dicht unter der Wasseroberfläche an Netzen anzusiedeln. Das sei „furchtbar teuer“ und gehe wegen ständiger Konflikte mit Naturschützern nur langsam voran, sagt Wagner. Erst kürzlich hätten sie von der Landesregierung jedoch neue Areale für ihre Netze zugeteilt bekommen.

Etwa 1000 solcher Netze bräuchten sie, schätzen die Muschelzüchter, und damit etwa dreimal so viele wie heute. Dann könnten sie die komplette Jungtierzucht auf Netze verlagern und sich vom Krabben-Risiko befreien. Und die Erträge könnten jedes Jahr so hoch sein wie voriges – oder gar noch höher.

Wenn nur kein Sturm kommt. Oder ein neuer Fressfeind auftaucht.

Die Rubrik „Blick hinter die Zahlen“ entsteht mit Unterstützung des Statistischen Bundesamtes (Destatis). Für die Inhalte der Beiträge ist ausschließlich die WirtschaftsWoche verantwortlich.

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