Blick hinter die Zahlen #30 Deutschlands Industrie: Knick im Rückgrat

In der Coronakrise leiden ausgerechnet die Bundesländer am schwersten, deren produzierende Wirtschaft besonders stark ist. Zudem offenbart die Industriewertschöpfung ein altes innerdeutsches Gefälle.

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Quer durch alle Parteien herrscht in dieser Sache ein seltener Konsens. Und auch die Ökonomen sind sich hier ziemlich einig: Deutschlands Industrie gilt als Markenzeichen der Volkswirtschaft, als Vorzeigebranche und Aushängeschild. Dass man die Wandlung hin zur Dienstleistungsgesellschaft nicht in so großem Ausmaß vollzogen hat wie andere Länder, auch nicht (fast) alles auf die Finanzindustrie setzte wie beispielsweise Großbritannien – diese Entwicklung gilt als eine der zentralen Begründungen für den langen Aufschwung, den Job- und Exportboom. Nur mit verarbeitendem Gewerbe und Produktion, betonen Wirtschaftswissenschaftler wie Politiker, könne man hohe Wertschöpfung und hohe Löhne gleichermaßen sichern.

Einerseits. Denn der Blick aufs ganze Land verdeckt die scharfen regionalen Unterschiede. In der gegenwärtigen tiefen Rezession trifft es ausgerechnet die Arbeitsmärkte jener Bundesländer besonders heftig, die über viel Industrie verfügen. Die Starken leiden also stärker als andere.

Nirgendwo zeigt sich das so deutlich wie in den zwei süddeutschen Ländern, die sonst vor Kraft kaum laufen können: Baden-Württemberg und Bayern. Die beiden industriellen Kerne stehen allein für fast die Hälfte des verarbeitenden Gewerbes hierzulande. Gleichzeitig führen sie die Rangliste der Länder an, in denen die Zahl der Kurzarbeiter besonders hoch ist.

Anteil der deutschen Bruttowertschöpfungim verarbeitenden Gewerbe.

Der Befund ist ziemlich eindrücklich: Maschinen- und Automobilbau, dazu die gesamte Zuliefererindustrie – sie alle hat der heftige Abschwung in Folge des Coronalockdowns besonders hart erfasst. „Vor allem in Bundesländern mit hohem Industrieanteil“ werde derzeit „mehr Kurzarbeit gefahren“, heißt es zu diesem Zusammenhang auch in einer aktuellen Analyse des Ifo-Instituts.

Die Kurzarbeit kann aber auch als eine Art Transformationsfieberkurve gelesen werden: Nach Corona dürfte in diesen Sektoren wieder vieles besser werden, aber eben nicht alles. Damit aus der Industrie quasi keine too-old-ecomony wird, müsste sich vieles wandeln.

Gleichzeitig offenbart die Statistik noch ein anderes regionales Ungleichgewicht, das leider schon älter und beständiger ist: das Ost-West-Gefälle. Der Aufholprozess der ostdeutschen Flächenländer, der in den Neunzigern noch recht hoffnungsvoll startete, ist weitgehend gestoppt – jedenfalls, wenn es um die Industrie geht. Stagnation bestimmt mittlerweile das Bild im gesamtdeutschen Vergleich, nicht einmal ein Zehntel der Industriewertschöpfung kommt heute aus dem Osten.

Anteil des verarbeitenden Gewerbes der ostdeutschen Länder an der deutschen Bruttowertschöpfung.

Wie aber passt das zu Erfolgsmeldungen der jüngsten Zeit? Tesla baut doch gerade in Brandenburg ein viel beachtetes Werk, BASF baut den Standort Schwarzheide aus, Porsche und VW wiederum produzieren schon viele Jahre in Sachsen. Nun ja: Der Osten muss ebenfalls differenziert betrachtet werden. Oder anders gesagt: Den Osten gibt es nicht.

Anteil ausgewählter Ostländer an der gesamtdeutschen Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe.

In Brandenburg, Sachsen und Thüringen gibt es also durchaus Erfolgsgeschichten zu vermelden, wenngleich alle drei von höchst bescheidenem Niveau aus starten. Dennoch: Die drei Länder haben ihren jeweiligen Länderanteil an der bundesdeutschen Industriewertschöpfung mehr als verdoppeln oder sogar verdreifachen können.

Das ist ein Aufstieg, den man von vielen Bundesländern im Westen nicht (mehr) behaupten kann. Bayern und Baden-Württemberg haben in den vergangenen drei Jahrzehnten ihre Stärken sogar weiter stärken können, andere wiederum erleben einen stetigen Abbau. Genau genommen vor allem ein Land: Nordrhein-Westfalen.

Welchen Anteil an der industriellen Wertschöpfung in Deutschland Nordrhein-Westfalen beisteuert.

Natürlich, die Substanz ist an Rhein und Ruhr trotzdem immer noch beachtlich. Aber vielleicht kommt in ein paar Jahren eine Zeit, in der stolze NRW-Landesväter oder -mütter in den Osten pilgern müssen, um erfolgreichen Strukturwandel zu kopieren.

Die Rubrik „Blick hinter die Zahlen“ entsteht mit Unterstützung des Statistischen Bundesamtes (Destatis). Für die Inhalte der Beiträge ist ausschließlich die WirtschaftsWoche verantwortlich.

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