WirtschaftsWoche: Herr Terwiesch, wann haben Sie mit der Kanzlerin zuletzt über die Energiewende gesprochen?
Peter Terwiesch: Das war bei ihrem jüngsten China-Besuch. Allerdings haben wir primär über die chinesische Energiewende diskutiert, an der ABB nicht ganz unbeteiligt ist. Wir haben für die Chinesen die mit 6400 Megawatt weltweit leistungsstärkste Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) gebaut. Die Anlage transportiert Strom aus dem Xiangjiaba-Wasserkraftwerk im Landesinneren über 2000 Kilometer nach Shanghai. Trotz der Distanz geht unterwegs kaum Energie verloren. Das ist das Besondere an dieser Technik.
Und die kann auch die deutsche Energiewende voranbringen?
Davon bin ich überzeugt. Ohne Gleichstrom-Netze wird die Umstellung auf eine vorwiegend regenerative Stromerzeugung nicht funktionieren.
Das müssen Sie erklären.
Bisher stehen unsere Großkraftwerke nahe der Verbrauchszentren. Die Leitungsverluste der herkömmlichen Wechselstrom-Übertragung fielen daher kaum ins Gewicht. Künftig werden große Strommengen per Windkraft weit draußen in Nord- und Ostsee produziert. Sie müssen 600 Kilometer und weiter nach Süd- und Westdeutschland transportiert werden, wo die großen Verbraucher sind. Diese Distanzen lassen sich verlustarm nur mit HGÜ überbrücken...
...die bislang nur zwei Orte miteinander verbinden können.
Und das ist das Problem. Mittelfristig aber darf es nicht bei einer Ein- und einer Ausfahrt für diese Langstrecken bleiben. Dann würde das Potenzial dieser Technologie nicht ausgeschöpft.
Wie wollen Sie mehr aus der Technik rausholen?
Wir müssen eine Art Stromautobahn mit vielen Anschlussstellen und Autobahnkreuzen schaffen. Dadurch wird die Stromübertragung flexibler – mehr Verbraucher würden davon profitieren. Warum sollten nur Bayern oder Baden-Württemberg am Ende der Leitungen den Windstrom abnehmen können und nicht zwischendurch auch etwa Nordrhein-Westfalen? Das Bundesland müsste dann nicht nur eine Trasse durch sein Einzugsgebiet genehmigen, sondern würde auch von dem Angebot profitieren. Ich denke, das würde auch die Akzeptanz bei den Bürgern erhöhen.
Voraussetzung für ein europaweiten Gleichstrom-Netz
Die Bundesregierung plant solche Technik bislang nicht.
Die Berliner Pläne sind ein guter erster Schritt, der noch an Wert gewinnt, wenn wir dabei schon an die nächsten Schritte denken. Ich plädiere dafür, die Auf- und Abfahrten schon heute zu planen. Sie sind Voraussetzung für den Aufbau eines europaweiten Gleichstrom-Netzes. Durch ein solches Overlay-Netz können wir Windstrom von der Nord- und Ostsee sowie Sonnenstrom aus der Sahara oder aus Südspanien fast verlustfrei durch Europa schicken. Das wäre wichtig, um sicherzustellen, dass grüner Strom rund um die Uhr ausreichend zur Verfügung steht und die Energieversorgung verlässlich ist.
Daran zweifeln die Experten der Deutschen Energie-Agentur Dena und rüffeln die Gleichstrom-Technik als nicht einsatzbereit. Wie sicher lassen sich die Stromflüsse in einem Gleichstrom-Super-Grid steuern?
Die HGÜ-Technologie ist seit Jahrzehnten erprobt. Was in der Tat für den Aufbau eines Gleichstrom-Netzes fehlte, ist ein Leistungsschalter, der Gleichstrom-Strecken in Bruchteilen von Sekunden vom übrigen Netz abtrennen kann, etwa nach einem Kurzschluss oder einem plötzlichen Spannungsabfall. So ein Schalter ist unabdingbar, damit es bei Fehlern nicht zu einem Ausfall kommt. Für Wechselstrom-Netze gibt es sie längst, für Gleichstrom werden wir in Kürze erstmals einen solchen Schalter vorstellen. Dann steht dem Aufbau eines europaweiten Gleichstrom-Netzes technisch nichts mehr im Weg.
Aber können wir es uns leisten, jetzt auch noch bei der Stromübertragung ein kostspieliges Parallelsystem aufzubauen?
Die Systeme werden sich ergänzen. Denn ohne Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung geht es nicht: Offshore-Kraftwerke lassen sich überhaupt nur so ökonomisch vernünftig ans Festland anschließen. Per Wechselstrom-Kabel wären die Verluste viel zu hoch, die Investitionen würden sich niemals rechnen. Und auch für den Weitertransport in den Süden ist Gleichstrom die bessere Lösung. Daher schlagen auch die Übertragungsnetzbetreiber im Netzentwicklungsplan vor, bis 2022 sieben Gleichstrom-Autobahnen mit zwölf Gigawatt von Nord nach Süd zu bauen. Weitere acht sollen bis 2032 folgen.
Treibt das nicht die Netzausbaukosten? Gleichstrom-Leitungen gelten als vergleichsweise teurer.
Das kommt aufs Einzelprojekt an. Bei einer Übertragungsleistung von 4000 Megawatt über eine Entfernung von 400 Kilometer beträgt der Kostenfaktor laut Dena-Netzstudie II 0,8 bis 1,6. Mit zunehmender Übertragungsleistung und -entfernung wird die Gleichstrom-Übertragung sogar günstiger. Zudem braucht man wegen der höheren Kapazität der Gleichstrom- Leitungen weniger Speicher, Trassen und neue Regelkraftwerke, um die Unstetigkeit des Ökostromangebots auszugleichen.
Die Stromkunden müssen also nicht befürchten, dass sie am Ende auch noch eine HGÜ-Umlage zahlen müssen?
Der Ausstieg aus der Kernenergie funktioniert nicht ohne Netzausbau. Und der ist am günstigsten mit der richtigen Kombination aus Wechsel- und Gleichstrom-Übertragung zu bewerkstelligen. Technisch ist es dabei auch möglich, Wechsel- und Gleichstrom-Leitungen über die gleiche Freileitungstrasse zu führen. Und als Erdkabel verlegt, ist Hochspannungs-Gleichstrom ab einer bestimmten Länge und Übertragungsleistung sogar günstiger als ein Wechselstrom-Kabel.
Kann ABB liefern?
Das sind große Pläne. Kann ABB am Ende auch liefern? Der Netzbetreiber Tennet, der die Nordsee-Meereskraftwerke anschließen muss, begründet einen Teil der Verzögerungen damit, dass ABB nicht mit der Produktion der notwendigen Gleichstrom-Seekabel hinterherkommt.
Das stimmt nicht. Allein in den vergangenen zwei Jahren haben wir annähernd eine Milliarde Dollar in die Erweiterung und Modernisierung unserer Fertigungs- und Entwicklungskapazitäten für die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung gesteckt. Allein 400 Millionen fließen in die Verdopplung der Seekabelproduktion. Wir sind lieferfähig.
Sind Sie zuversichtlich, dass die Energiewende am Ende allen Widrigkeiten zum Trotz gelingt?
Sie ist mit dem Atomausstieg ja erst vor gut einem Jahr ausgerufen worden. Und wir können nicht erwarten, dass ein solches Jahrhundertprojekt, das einem Totalumbau des Energiesystems gleicht, nach ein paar Monaten fertig dasteht. Wenn wir sorgfältig planen und gestaffelt vorgehen, dann gelingt die Energiewende.
Bisher zeigt sich vor allem eins: Die Stromversorgung wird wackeliger, die Strompreise steigen.
Natürlich muss das System sicher bleiben. Denn jede Stunde Stromausfall bringen Deutschland wirtschaftliche Verluste von über einer Milliarde Euro. Aber wenn wir es richtig anpacken, wird das Netz auch während des Umbaus stabil bleiben. Davon bin ich überzeugt.
Was nützt das, wenn die Strompreise energieintensive Unternehmen außer Landes treiben?
Um das zu verhindern, sollten wir verstärkt das Thema Energieeffizienz angehen. Denn der grünste Strom ist immer noch der, den wir gar nicht erst verbrauchen.
Das Stromsparen würde den Preisanstieg ausgleichen?
In einigen Fällen sogar überkompensieren.
Zum Beispiel wo?
Ein ergiebiges Feld sind elektrische Antriebe. Die Industrie verbraucht weltweit 42 Prozent des Stroms. Zwei Drittel davon gehen in Elektromotoren. Und die laufen zu 90 Prozent immer noch ständig auf voller Drehzahl. Würden sie immer nur so viel Leistung produzieren, wie tatsächlich abgenommen wird, käme jeder elektrische Antrieb durchschnittlich mit 30 bis 50 Prozent weniger Strom aus – ein gigantisches Sparpotenzial.