Eine Schneise der Verwüstung hat die russische Armee im Norden der Ukraine hinterlassen. Dabei zerstörten die Soldaten nicht nur Vororte der Hauptstadt Kiew, sondern plünderten verwaiste Einkaufszentren und stahlen von Zivilsten. Fernseher, Schmuck oder Mobiltelefone gehören unter anderem zum Raubgut der Invasoren.
Die Chancen stehen schlecht, dass die Opfer ihre Wertgegenstände je zurückerhalten. Zumindest bei Geräten von Apple aber können sie nachverfolgen, wo sie sich nun befinden. Möglich macht das die smarte Suchfunktion „Wo ist?“, die Apple 2019 eingeführt hat. Sie erlaubt es, verlorene oder gestohlene Geräte, Laptops, Smartphones, aber auch AirPod-Kopfhörer oder die münzgroßen AirTag-Bluetooth-Tracker zu lokalisieren.
Der praktische Dienst ist, wie das Beispiel Ukraine zeigt, auch unerwartet verräterisch. Schließlich könnte er es erlauben, sogar russische Truppenbewegungen und Militärstandorte damit zu lokalisieren. Und noch weitere Informationen können preisgegeben werden, wenn die Findefunktion nicht abgeschaltet wird.
Solange sie aktiv ist, scheint es auch möglich zu sein, zu verfolgen, wohin die russischen Invasoren in der Ukraine ihr Raubgut verschleppen. Berichte, dass russische Soldaten anhand von gestohlenen Apple-Geräten lokalisiert werden können, finden sich in den Sozialen Medien. Franak Viačorka etwa, leitender Berater der weißrussischen Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja, hat auf dem Kurznachrichtendienst Twitter ein Bild der „Wo ist?“-App geteilt: Darauf zu sehen ist der Standort von Apple-Kopfhörern in der weißrussischen Region Homel – unweit der ukrainischen Grenze.
Ukrainians are locating their devices on the territory of the Homiel region, Belarus, where part of the Russian army retreated. pic.twitter.com/JsdhltRZ5E
— Franak Viačorka (@franakviacorka) 5. April 2022
Der Berater schreibt dazu, dass die Besitzer anhand der Geräte orten könnten, wohin sich die russische Armee zurückgezogen habe. Tatsächlich befinden sich in der Region Homel Standorte der russischen Armee, wie die Live-Kriegskarte liveuamap.com zeigt.
iPhones kommunizieren untereinander
Mit der „Wo ist?“-Funktion können verlorengegangene oder gestohlene Apple-Geräte gesucht werden. Sie ist in den iPhones, Macbooks und iPads standardmäßig installiert. Das mit Apples Betriebssystemversion iOS 13 eingeführte System funktioniert so, dass alle in Funkreichweite befindlichen Apple-Geräte miteinander kommunizieren und ein Netzwerk bilden. Unbemerkt vom Telefonnutzer tauschen die Geräte so ihre Standortinformationen aus, die anschließend über das „Wo ist?“-System auf Apples Servern hinterlegt werden.
Wer seine Geräte im persönlichen Nutzerprofil angemeldet hat, kann bei Verlust oder Diebstahl nachverfolgen, wo sie zuletzt geortet wurden. Das funktioniert sogar, wenn die abhandengekommene Technik gar nicht selbst mit dem Internet verbunden ist, sondern nur von einem anderen Apple-Gerät lokalisiert wurde. Angesichts eines riesigen Netzes von rund einer Milliarde Apple-Geräten erlaubt die „Wo ist?“-Funktion die Ortung der Geräte in großen Teilen der Welt. Die gestohlenen Kopfhörer auf der Militärbasis in Weißrussland haben sehr wahrscheinlich ihren Standort über dieses Netzwerk weitergeben und konnten so lokalisiert werden. Ob die Ukraine die Daten nutzt, um die Bewegung der russischen Truppen nachzuvollziehen, ist unklar.
Die Datenspur der geraubten Geräte dürfte groß sein. So berichtet der ukrainische Geheimdienst SBU, dass die russischen Soldaten große Mengen an gestohlenen Waren aus dem Land schaffen. Die Dimension der Plünderungen ist kaum zu erfassen. Die britische „Times“ berichtete über Aufnahmen einer Überwachungskamera: Darauf verpackten die Invasoren etwa zwei Tonnen an Fernsehern, Kleidern oder persönlichen Wertgegenständen von Ukrainern.
Eine von vielen Quellen
Sicherheitsexperte Michael Haas bezweifelt allerdings, dass die Informationen aus der „Wo ist?“-Funktion ausreichen, um der ukrainischen Armee einen strategischen Vorteil im Krieg zu verschaffen. „Der Wert dieser Standortdaten hängt davon ab, ob sie sich mit anderen Informationen bündeln lassen“, sagt Haas, der zuletzt an Zentrum für Sicherheitsstudien der ETH Zürich forschte. Weitere wichtige Quellen seien etwa Satellitenbilder, Drohnenaufnahmen oder die Ortung von Funksignalen. Der ukrainischen Armee gelinge es gut, Informationen aus dem Internet und anderen öffentlichen Quellen zusammenzutragen. „Im Verbund mit anderen Daten können diese Standortdaten eine wichtige Zusatzinformation sein“, glaubt Haas.
Es wäre nicht das erste Mal, dass vermeintlich harmlose Standortdaten aus privaten Endgeräten für die militärische Aufklärung genutzt werden. So wurden 2018 Militärbasen in Afghanistan dank aufgezeichneter Jogging-Routen plötzlich für die Öffentlichkeit sichtbar. Mit Fitness-Trackern joggten Soldaten um die Anlagen und luden ihre Trainingsdaten auf die Fitnessplattform Strava, wo sie öffentlich einsehbar waren. Und das, obwohl das US-Militär seine Soldaten vor dem Gebrauch von Apps mit Ortungsfunktion gewarnt hatte.
Was passiert mit den gestohlenen iPhones?
Doch die Spur der Daten, die die russischen Soldaten hinterlassen, ist nicht das einzige Problem, dass ihnen die „Wo ist?“-Funktion beschert – und nicht bloß ihnen. Denn die Geräte lassen sich über Apples-Suchdienst auch nachträglich noch aus der Ferne sperren, indem ihre Besitzer diese als „verloren“ markieren. Das sperrt den Zugang von iPhones, iPads oder Macbooks aus der Ferne. Die Geräte wären so für die Plünderer unbrauchbar.
Einen unangenehmen Nebeneffekt hat diese Funktion auch im zivilen Alltag und beim ganz legalen Weiterverkauf der Geräte. Wenn sie bei „Wo ist?“ nicht korrekt abgemeldet werden, bleibt für den Käufer das Problem, dass beispielsweise die einmal mit einem iPhone gekoppelten AirPod-Kopfhörer nicht mit einem neuen Telefon verbinden lassen. Daneben bleibt das Risiko, dass der Verkäufer die Technik nachträglich noch sperrt.
Verschärft wird die Misere, weil ein einfaches Zurücksetzen der Geräte die „Wo ist?“-Sperre nicht löscht und sich die Funktion auch nicht von Dritten zurücksetzen lässt. Deshalb berichten sogenannte Refurbisher, Unternehmen, die gebrauchte Technik aufkaufen, instandsetzen und dann weiter vermarkten, dass sie speziell bei AirPod-Kopfhörern auf gebrauchter Ware sitzen bleiben.
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