Arago-CEO Chris Boos „Es gibt auf der Welt schon genug schlechten Code“

Chris Boos Quelle: Nils Bröer für WirtschaftsWoche

Chris Boos, Pionier auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz und Mitglied im Digitalrat der Bundesregierung, erklärt, warum wir zu viel über Handyempfang reden und unsere Sorge vor allmächtigen Maschinen unbegründet ist.

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Der Mann hat eine Mission: Chris Boos möchte seine Firma Arago zu einer arschlochfreien Zone machen. So verkündet es ein Plakat in der Firmenzentrale in Frankfurt. Hinter dem flotten Spruch steckt etwas Grundsätzliches. Künstliche Intelligenz, davon ist Boos überzeugt, kann den Menschen die Freiheit zurückgeben, wieder kreativ zu arbeiten. 1995 hat er mit seinem Onkel das Unternehmen Arago gegründet, das Unternehmen helfen will, ihr Geschäft mit der Technologie neu zu erfinden. Zudem ist Boos Mitglied des zehnköpfigen Digitalrats der Bundesregierung. Auf dem Digital Transformation Summit der WirtschaftsWoche erklärte der KI-Vordenker, welche Arbeiten einem Künstliche Intelligenz abnehmen kann, warum nicht jeder programmieren lernen muss – und es wichtigere Themen als den schlechten Handyempfang gibt.

Herr Boos, wenn man Sie fragt, was KI eigentlich ist, dann antworten Sie gerne mit einem Witz. Das wäre jetzt die Steilvorlage.
Ich habe ein T-Shirt mit der Aufschrift: „After real intelligence didn't work for me, I'm using artificial.“ Künstliche Intelligenz an sich ist ein schwieriger Begriff. Man spricht häufig nur von KI, solange etwas nicht funktioniert. Danach spricht man dann zum Beispiel von Gesichtserkennung. Früher war das KI, heute ist es ein Computerprogramm. Sobald wir verstehen, wie etwas tatsächlich funktioniert und was es tut, ist es nicht mehr so spannend. 

Vielleicht bilden wir uns auch einfach ein, dass KI derzeit schon ganz viel kann, wozu sie womöglich noch nicht in der Lage ist.
Irgendwie hat man erkannt, dass Investoren auf KI fliegen und deswegen wird beinahe alles, was ein bisschen Statistik und Mathematik in sich trägt, schon KI genannt. Für Leute, die über Jahre viel Arbeit in Künstliche Intelligenz gesteckt haben, ist das ziemlich bedauernswert. Aber viel schlimmer finde ich, dass wir uns über diesen Begriff KI Dinge einreden, die komplett unrealistisch sind: Roboter, die sich tatsächlich mit einem unterhalten können, sind zwar tolle Bühnenshows. Doch viel entscheidender ist, dass KI viele Dinge, etwa unser Wirtschaftssystem, weitgehend automatisieren kann. So könnte man das ganze System auf den Kopf stellen. Warum wir stattdessen über Maschinen reden, die sich angeblich selbst programmieren können und ihre eigenen Ziele durchsetzen wollen, erschließt sich mir nicht. Denn das ist vollkommen unrealistisch. Warum diskutieren wir nicht über das Jetzt?

Chris Boos Quelle: Nils Bröer für WirtschaftsWoche

Machen wir das doch: KI kann uns also komplizierte und lästige Arbeit abnehmen. Welche zum Beispiel?
Im weitesten Sinne eigentlich all das, was man schon in Prozesse gegossen hat: Wo also klare Ziele und Grenzen formuliert sind. Das fängt typischerweise bei Planungsprozessen, Logistik oder Prognosen auf Grundlage von aktuellen und vergangenen Daten an und geht dann weiter in die spezifischeren Prozesse eines Unternehmens. All das kann man mit KI automatisieren. Sehr viele Unternehmen machen das bereits – da stehen wir gut da. Ich finde es nur bedenklich, wenn Leute denken, KI könnte ihnen ein neues Geschäftsmodell erzeugen.

Wen meinen Sie damit? 
Ich hatte mal eine Diskussion mit einem Dax-Vorstand, der hat mich folgendes gefragt: „Herr Boos, wenn ich Ihnen alle meine Daten gebe, formulieren Sie mir dann ein neues Geschäftsmodell?“ Ich habe darauf geantwortet, dass ich mit all den Daten 80 Prozent seiner Prozesse im Unternehmen automatisieren würde. Dann hätte er Zeit, sich Gedanken über ein neues Geschäftsmodell zu machen.

Wie hat er reagiert?
Das Unternehmen ist heute unser Kunde.

Kommt es auch vor, dass Ihre Kunden gar nicht kreativ denken wollen, sondern viel lieber an den alten Abläufen festhalten würden?
Solche Leute trifft man immer wieder, die denken dann nach dem Motto: Wasch mich, aber mach mich nicht nass. Glücklicherweise sind solche Begegnungen hierzulande recht selten geworden. Diesen Trend sieht man auch in unserer Geschäftsentwicklung: Indien war sehr lange unser am schnellsten wachsender Markt. Inzwischen ist Europa gleichauf. Das liegt vor allem daran, dass sich der Mittelstand dem Thema Künstliche Intelligenz immer stärker annimmt und beginnt, mit automatisierten Systemen zu arbeiten.

An welche Mittelständler denken Sie da?
Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Unternehmen, das Maschinen wartet. Dann haben Sie möglicherweise 5000 Wartungsschritte. Mit jedem Schritt, bei dem sich etwas verzögert, könnte sich Ihr ganzer Plan ändern. Normalerweise kann man dem nur durch ausreichend Zeitpuffer entgegenwirken. Mit einer Maschine können Sie hingegen in Echtzeit neu planen. Die Wartungszeit verkürzt sich dadurch etwa um die Hälfte.  

So funktioniert Künstliche Intelligenz

Sie haben häufig betont, dass beim Thema KI zu viel „Bullshit-Bingo“ gespielt werde. Welche Phrase nervt sie am meisten? 
Am allermeisten nervt mich, dass wir völlig überschätzen, was mit KI möglich ist. Ich finde es vollkommen abwegig, wenn jemand ernsthaft denkt, dass wir mit Maschinen einen echten, spontanen Dialog führen können. Wenn ich einen Termin beim Friseur vereinbaren möchte, weiß ich ungefähr, wie der Dialog ablaufen wird. So ein vorgefertigtes Gespräch kann man selbstverständlich mit einer Maschine führen. Aber echte Konversationen zu führen ist einfach unrealistisch. 

„Zukunft muss im Kopf aller Menschen zu etwas Wünschenswertem werden“

Sie sitzen im Digitalrat der Bundesregierung. Wie viele Phrasen fallen dort?
Relativ wenige. Das Spannende am Digitalrat ist nämlich, dass dort Leute sitzen, die allesamt keine politische Karriere hinter sich haben oder eine anstreben. Sondern wir machen das freiwillig und weil wir den Eindruck haben, dass wir etwas bewegen müssen. Auf der anderen Seite steht die Politik. Und die weiß, dass wir im Digitalrat auch allesamt wahnsinnig viele andere Dinge zu tun haben. Wenn zu viele Phrasen fallen würden, dann sind wir alle sehr schnell wieder weg. Bisher hat die Politik da ein sehr offenes Ohr. Ich bin erstaunt, wie viel Zeit investiert wird, um sich tatsächlich mit den Themen zu beschäftigen und sich von Grund auf schlau zu machen - bevor die Phrasen überhaupt gedroschen werden können.

Bei welchem Zukunftsthema wäre noch Nachhilfe nötig?
In den Medien kommt häufig die Diskussion über 5G auf. Disruption liegt für mich aber nicht in einem besseren Handyempfang. Klar, den hätte ich auch gerne. Wenn jemand allerdings behauptet, dass wir für diverse Zukunftsthemen diese Bandbreite zwingend brauchen, frage ich immer: „Warst du schon mal in San Francisco, da wo angeblich all die Disruption herkommt? Hast du da mal versucht, mit deinem Handy zu telefonieren?“ Von zehn Anrufen kommen dort acht gar nicht zustande. 

Worüber sollten wir mehr diskutieren?
Es gibt lauter Zukunftskonferenzen, auf denen man immer wieder die gleichen Leute sieht. Doch diejenigen, die gerne zurück in die Vergangenheit wollen, werden dort nicht angesprochen. Wir müssen es schaffen, dass wir mit allen Menschen über die Zukunft diskutieren. Wenn ich den typischen abendlichen Nachrichteninterviews im Fernsehen zuhöre, habe ich den Eindruck, dass Zukunft gar keine Option sei. Zukunft muss im Kopf aller Menschen zu etwas Wünschenswertem werden. Sie kommt ja sowieso auf uns zu. Es ist furchtbar, wenn so viele von uns Angst vor der Zukunft haben.

Wie nehmen Sie den Leuten außerhalb des Digitalrats diese Angst?
Ich investiere aktuell 13 Prozent meiner Zeit in Bildung. Also, um das Thema KI zu erklären, wie das funktioniert und was man damit macht. Aber auch, um deutlich zu machen, dass nicht jeder arbeitslos wird, wenn wir alle Prozesse automatisieren. Denn es ist viel gefährlicher, wenn wir einfach warten und auf dem Feld der KI nichts tun. 

Eines Ihrer Statements, das den Leuten womöglich die Angst nimmt, ist, dass nicht jeder in Zukunft das Programmieren lernen muss. Warum nicht?
Also: Programmierer schreiben Programme. Dann gibt es Algorithmendesigner, Leute wie mich. Wir schreiben nicht nur Programme, sondern unsere Programme müssen auch noch beweisbar sein. Und aus der Sicht eines Algorithmendesigners gibt es auf der Welt schon genug schlechten Code. Dass dann noch mehr Leute schlechten Code produzieren sollen, finde ich schlimm. Denn das ist wahnsinnig sicherheitsrelevant. Programmieren sollte nur Teil einer Philosophie zur Problemlösung sein. Beim Programmieren gibt es dafür zwei große Methoden. Die eine ist „Divide-and-conquer“. Man nimmt ein großes Problem, teilt es in Kleinigkeiten und löst die kleinen Probleme. Die zweite Methode ist Rekursion, also ein Problem mit sich selbst zu lösen, weil man es auf etwas Kleineres anwendet.  

Das klingt immer noch kompliziert.
Mir ist unklar, warum Menschen davor so einen Respekt haben. Alle Algorithmen der Welt lassen sich aus fünf Kommandos zusammensetzen: Tue etwas, tue nichts, entscheide dich, wiederhole etwas und weise etwas zu. Jeder kann das lernen. Eine Grammatik für eine Programmiersprache hat vielleicht zwei Seiten. Das ist keine Magie. Wir müssen uns fragen, ob wir Leuten beibringen, Probleme zu lösen. Ja, Programmieren ist eine Art Probleme zu lösen und algorithmisches Denken ist auch noch eine gute Art. Aber wenn man das macht, sollte man auch Dialektik lernen oder das gemeinsame Lösen von Problemen. Programmieren allein kann nicht die Lösung sein.

Gibt es in Deutschland genug kluge Leute, die etwas von KI verstehen, rausgehen und die Leute über Chancen der KI aufklären?
Das Problem ist, dass unter diesen klugen Köpfen viele introvertierte Menschen sind. Wenn man nicht rechtzeitig gelernt hat, dass es egal ist, wenn man sich mal auf einer Bühne blamiert, dann geht man auch nicht auf die Bühne. Außerdem treffen die Leute, die sich auskennen und von den Chancen der KI überzeugt sind, oft nur auf ihresgleichen. Es wäre viel wichtiger, deutlich breiter zu diskutieren.

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