Buchrezension Liebe im digitalen Zeitalter

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Das Internet verspricht Wunder auf dem Liebesmarkt

Was Wunder, dass die Liebe, wie Illouz bemerkt, ihr "kulturelles Pathos" verloren hat, zum "Gegenstand ironischer Randbemerkungen" geworden ist oder in die Refugien des Imaginären auswanderte. Im letzten Kapitel, einem Höhepunkt ihres Buchs, zeigt die Autorin, wie die moderne Konsumkultur die romantischen Romanphantasien des 19. Jahrhunderts beerbt und die Menschen dazu einlädt, sich geradezu hemmungslos ihren Tagträumen hinzugeben. Wie in keiner Epoche zuvor werden die Vorstellungen von Liebe, Familie und Sex in der Moderne überformt von fiktionalen Gefühlen und visuellen Klischees, von Geschichten, Bildern und Waren. Zu zeitgenössischen Lebensläufen gehört daher essentiell das Gefälle zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen gelebtem und nicht gelebtem Leben.

Das gilt erst recht für die moderne Liebe, die unter der Last gesteigerter Erwartungen zu einer Quelle des Leids wird: Sie operiert "stets am Rande der Enttäuschung", weil die Liebenden "ihre eigenen Enttäuschungen und die der anderen vorwegnehmen". Die Ahnung, dass es beim nächsten Mal wieder schief geht, legt sich wie Mehltau über die Beziehungen. "Es sei so schwierig, gute Männer zu finden", sagt eine 42jährige geschiedene Frau im Interview, "manchmal glaube ich, es müsste ein Wunder geschehen, damit das passiert."

Das Internet verspricht, derlei Wunder zu stiften. Immerhin 30 Prozent aller Nutzer suchen, nach Erhebungen der BBC, irgendwann einen Freund oder eine Freundin auf elektronischem Wege. Der Vorteil des Internets: Es ermöglicht einen "imaginativen Stil", der persönliche Begegnungen ausschließt. Auch wenn das Geschäft von Kontaktbörsen auf realen Sex zielt: Für immer mehr Nutzer ist, wie Eva Illoux an einer Fülle von Beispielen zeigen kann, der Partner vor allem eine Textbotschaft. Der Kontakt mit ihm fußt nicht in erster Linie auf Körperphantasien, sondern auf sprachlicher Information.

Dieser Befund führt sie zu der weitreichenden These, dass Phantasie und Einbildungskraft immer unabhängiger von ihren realen Objekten werden, sich verselbständigen und im Extremfall zum Selbstzweck werden. "Ich glaube, je älter ich werde", berichtet ein 50jähriger geschiedener Mann im Interview, "desto mehr liegt mir an diesem unerfüllten Lieben. (…) Es löst das existentielle Problem der Symbiose zwischen dem Emotionalen und dem Intellektuellen. (…) Eine SMS am Morgen, in der nur "Guten Morgen" steht, wird mit sehr viel Bedeutung aufgeladen" – und entlastet von den Aufdringlichkeiten eines gemeinsam erlebten Ehe- oder Familienalltags.

Illouz spricht treffend von "abwesender Anwesenheit", die durch elektronische Kommunikation erzeugt wird. Gerade die Distanz zum Liebesobjekt wird zur Quelle der Lust und ermöglicht ungestörte Idealisierung. Die Zukunft der Liebe im 21. Jahrhundert – ein um sich selbst kreisendes Begehren? Ein von der Wirklichkeit abgeschottetes, schmerzfreies Phantom? Gewiss, dass die Leidenschaft in Zeiten des Internets endgültig dem Ideal der Coolness gewichen ist, daran lässt Eva Illouz keinen Zweifel. Gerade deshalb mündet ihr Buch in ein Plädoyer für die leidenschaftliche Liebe. Im Epilog erhält ein Schriftsteller das letzte Wort, Jonathan Franzen: "Ohne Schmerz durchs Leben zu kommen, heißt, nicht gelebt zu haben."

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