Herr Johnson, warum haben Sie nach Ihrem Erfolg in der Softwarebranche ausgerechnet die Schnittstelle zum Hirn als neues Betätigungsfeld gewählt?
Bryan Johnson: Nachdem ich Braintree erfolgreich verkauft habe, habe ich lange darüber nachgedacht, wie ich persönlich dabei helfen kann, die Menschheit voranzubringen. Wir haben Möglichkeiten vor uns, die wir uns noch gar nicht vorstellen können. Gleichzeitig aber auch jede Menge Probleme, die wir unbedingt lösen müssen. Ich machte mich daran, für mich herauszufinden, ob es etwas gibt, mit dem man beides fundamental beeinflussen und beschleunigen kann.
Und die Antwort liegt in unserem Gehirn?
Ich habe mehrere Jahre alles zu dem Thema studiert, habe hunderte Gespräche mit Experten geführt und mit ihnen debattiert. Und ja, die Wurzel liegt in unserem Verstand. Wie wir miteinander umgehen, was wir tun und auch was wir nicht tun und warum. Wirtschaftliche Entscheidungen, partnerschaftliche Beziehungen, wie wir mit dem Klimawandel umgehen oder aber auch nicht, wie wir Künstliche Intelligenz entwickeln, all das wird von Denken gesteuert.
Wie legt man „das Denken“ offen?
Der Verstand versteckt sich sozusagen hinter unseren Augen. Wir sind allerdings darauf gepolt, dass wir den Dingen, die wir sehen, mehr Aufmerksamkeit schenken. Ich glaube, es ist eine riesige Chance, das Denken sichtbar zu machen. Das wir ermitteln können, warum wir uns so verhalten wie wir es tun. Was wäre, wenn wir unser Gehirn rein numerisch verstehen? Wir es in einer Art kartographieren können, die Prozesse sichtbar und nutzbar macht. In einer Art Messung, statt darüber abstrakt zu reflektieren.
Wie? Elektroden ins Gehirn nähen wie Elon Musk es mit seinem Unternehmen Neuralink tut?
Es gibt viele Möglichkeiten. Elektroden, ja. Dann gibt es Elektroenzephalografie (EEG) und funktionelle Magnetresonanztomographie (fRMI). Aber keine ist bislang aus ihrer Nische herausgekommen. fRMI ist wundervoll, aber dahinter steckt eine tonnenschwere Maschine, bis zu drei Millionen Dollar teuer, plus die Kosten, um sie zu betreiben. EEG ist günstig, aber das Signal eher schwach. Alle Ansätze haben ihre Stärken und Schwächen. Die große Herausforderung ist, eine Technologie zu finden, die bezahlbar ist und gute Signalqualität offeriert. Und von möglichst vielen nutzbar.
Ihre gerade präsentierte Lösung ist eine Art Helm. Wie unterscheidet er sich von Elon Musks Ansatz?
Wir sind nicht invasiv, wollen nicht physisch direkt ins Hirn hinein. Offengestanden, haben wir mit einer invasiven Methode begonnen, sogar an einem Produkt gearbeitet. Ich bin auch überzeugt, dass es invasive Lösungen in der Zukunft geben wird. Aber bis dahin gibt es weit bessere Ansätze, die eine Brücke schlagen und unser Verständnis vom Denken massiv verbessern können. Deshalb habe ich unsere Firmenstrategie geändert.
Damit möglichst viele Leute sie nutzen, ohne gleich ihren Schädel aufmeißeln zu lassen?
Bei einer Lösung via chirurgischen Eingriff reden wir über sieben bis zehn Jahre, bis man sie am Markt einsetzen darf. Vorausgesetzt, alles läuft glatt. Dann muss man sie weltweit einführen, Spezialisten ausbilden, Kliniken gewinnen, Versicherungen überzeugen. Damit sind wir schon bei 15 Jahren. Mindestens. Ich will etwas vorantreiben, was weltweit skalierbar ist und innerhalb von Jahren Einfluss hat.
Was treibt Sie persönlich an?
Dass die Zukunft noch weit fantastischer sein wird, als ich sie mir vorstellen kann.
Sie sind also Optimist?
Ein nüchterner und vorsichtiger. Wir stehen an der Schwelle einer neuen Evolution des Menschen. Die Zukunft ist viel bunter und verrückter. Viele können sich das nicht vorstellen, weil sie annehmen, dass unser Bewusstsein sich mit dem Fortschritt nicht verändert. Aber so ist es eben nicht. Die Erkenntnis ist zwar nicht radikal. Die gibt es schon lange. Aber sie selber anzuwenden, ist schwerer.
Was wollen Sie mit Kernel erreichen?
Die meisten erwarten von einer Gehirn-Maschine-Schnittstelle, unseren Intelligenzquotienten zu verbessern. Ich finde es wesentlich attraktiver, damit unsere Ignoranz sichtbar zu machen. Ich möchte gern verstehen, wie tief meine Irrationalität geht, meine Vorurteile, die Grenzen meiner Auffassungsgabe. Das hat viel mehr Wert. Denn unser Gehirn macht uns glauben, dass wir immer rationale, konsistente, logisch denkende Kreaturen sind. Was nicht stimmt. Wenn wir dort mehr Einsicht bekommen, uns dessen bewusst sind, wir aktiv gewarnt werden, packen wir vielleicht Probleme ganz anders an oder vermeiden sie gleich ganz.
Es geht also darum, sich besser zu verstehen, mit Hilfe von außen?
Es gibt 188 kognitive Verzerrungen, die protokolliert sind. Es sind Tricks, die unser Gehirn nutzt, damit es dieses effiziente, 1,3 Kilo leichte, nur 20 Watt verbrauchende Organ sein kann. Der Preis der Effizienz ist Irrationalität, verzehrte Wahrnehmung und Erinnerung. Bestätigungsfehler, also die Tendenz, Informationen so auszuwählen, dass sie die eigenen Erwartungen bestätigen. Wir sind uns diesem Wunschdenken meist nicht bewusst.
Und wie wollen Sie das lösen?
Ich vergleiche es gern mit dem Entziffern des menschlichen Erbguts. Je besser wir es sequenzieren können, so die Erwartung, desto mehr Zusammenhänge werden offenbar oder lassen sich zumindest untersuchen. Nach dem Genom liegt jetzt das „Brainome“ vor uns, das Aktionen in Millisekunden steuert, noch weit mehr Daten bescheren wird. Eine hochqualitative Gehirnschnittstelle könnte eine neue Ära des „Menschsein“ starten.
Geht es konkreter?
Meine neun Jahre alte Tochter lernt Multiplizieren. Ein Interface misst dabei die Reaktion ihres Gehirns. Die erste Aufgabe löst sie richtig, in nur 1,2 Sekunden. Bei der zweiten hat sie Schwierigkeiten, es ist dauert länger und die Lösung ist falsch. Wie zeigt sich dieser Prozess im Hirn, welche Charakteristiken hat er, war sie verwirrt oder einfach abgelenkt? Ein gutes Interface sollte diese unterbewussten Prozesse aufzeichnen und identifizieren können. Wie könnte sie die Kenntnis darüber nutzen, um besser zu lernen? Ich glaube, wir wissen noch zu wenig, um uns das Potential der Technologie wirklich vorstellen zu können. Man muss es im Einsatz sehen.
Ist nicht jedes Gehirn einzigartig?
Ja. Aber es gibt Prozesse, die sich generalisieren und feststellen lassen.
Aber ist das wirklich eine Aufgabe für ein Start up oder nicht eher ein Forschungskonsortium?
Wir haben derzeit 64 Mitarbeiter. 32 davon haben einen Doktorabschluss, über mehr als zehn Disziplinen hinweg. Der Schlüssel liegt im interdisziplinären Arbeiten. Wie sie das tun und Probleme lösen, ist wie Magie. Ich denke, wir haben das richtige Umfeld geschaffen.
Muss ein Unternehmer dahinter stecken, der ständig Druck macht?
Es gibt bereits Unternehmen, die mit Neurowissenschaften Geld umsetzen. Beim Verkauf von fRMI-Maschinen beispielsweise. Aber es ist eine kleine Branche. Sie kann sich nicht entfalten, weil es noch keine bezahlbare Hardware gibt, die qualitativ hochwertige Daten liefert, ohne chirurgische Eingriffe.
Facebook hat mit CTRL-Labs bereits ein Unternehmen in dem Bereich erworben.
Ja, die Gründer haben das gut gemacht. Eine bestehende Technologie sehr clever eingesetzt. Es waren im Grunde „niedrig hängende Früchte“. Aber ich weiß nicht, wieviel es von dieser Sorte noch gibt. Eher wenig.
Medizinische Anwendungen sind also auch für Kernel erstmal nicht zu erwarten?
Ja. Vielleicht später. Der Markt wird sich ganz natürlich herausbilden. Die Prognosen über seine Größe sind meiner Meinung nach falsch. Wenn wir eine Art Tipping Point hinbekommen, so wie beim Genom, wird er massiv sein.
Haben Sie Konsumenten im Blick?
Zum Start wollen wir auf Geschäftskunden fokussieren. Also beispielsweise ein Anbieter von Musik, der die Geschmäcker seiner Kunden besser ergründen will. Ein Unternehmen, das Lernmethoden verbessern will, Meditation, Therapie oder Fitness. Das sind offensichtliche Dinge. Es wird spannend, was entsteht, wenn andere Unternehmer und Entwickler Zugriff auf Daten haben.
Liegen Visionäre wie Google-Berater Ray Kurzweil richtig, die überzeugt sind, dass wir in ein paar Jahrzehnten unser Gehirn und damit unser Denken auf eine Festplatte laden können und so Unsterblichkeit erreichen?
Mein erster Gedanke: Wie zum Teufel soll ich das wissen?
Sie haben sich doch garantiert damit intensiv beschäftigt?
Sicherlich. Ich habe dabei erkannt, dass mein Verstand Grenzen hat. Und es manchmal besser ist, diese einzugestehen. Anstatt eine clevere Antwort zu geben.
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