Digitalisierung Deutschland fehlen die richtigen Lernprozesse

Viele Deutsche sehen die Digitalisierung skeptisch – sie fürchten etwa den Verlust des Arbeitsplatzes oder Datenmissbrauch. Doch technologische Stagnation ist keine Lösung. Quelle: Imago

Die Digitalisierung in Deutschland lahmt, die Wettbewerbsfähigkeit leidet. Das liegt auch an der Zurückhaltung der Gesellschaft gegenüber neuen Technologien. Könnte mehr digitale Bildung den Fortschritt beschleunigen?

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Technologische Innovationen bergen das Potential, globale Herausforderungen wie den Klimawandel zu meistern, sichern die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und können die Möglichkeit bieten, unseren Alltag positiv zu beeinflussen. Zugleich nimmt die Digitalisierung zunehmend Einfluss auf sämtliche Bereiche unseres täglichen Lebens: Ob am Arbeitsplatz, in der Schule oder im privaten Umfeld – der technische Fortschritt verändert altbekannte Strukturen. Diese Entwicklung stößt nicht bei allen Bundesbürgern auf Zustimmung. Ein erfolgreicher Wandel zu einer digitalen Gesellschaft kann jedoch nur mit ihrer Unterstützung gelingen.

Deutsche sind gegenüber der Digitalisierung zurückhaltend

Obwohl vier von fünf Deutschen durch die Digitalisierung überwiegend positive Einflüsse auf die Wirtschaft erwarten, reagieren Sie insgesamt abwägend und zurückhaltend auf die technologische Entwicklung. Das zeigt der Technik-Radar des Zentrums für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (Zirius), der jährlich im Auftrag der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften Acatech und der Körber-Stiftung herausgegeben wird.

Laut der Studie sehen nur 54 Prozent der Befragten den gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung in Deutschland optimistisch entgegen. Im Vergleich zum europäischen Durchschnitt, der bei fast zwei Dritteln liegt, ist die Erwartungshaltung also eher pessimistisch. In Schweden rechnen sogar 75 Prozent der Befragten mit positiven Auswirkungen des Fortschritts auf die Gesellschaft. Besonders beunruhigt sind die Deutschen unter anderem von möglichen Arbeitsplatzverlusten und Datenmissbrauch.

„Die Zerrissenheit der Gesellschaft bezüglich der Digitalisierung ist so groß, wie lange nicht mehr – wir befinden uns irgendwo zwischen Aufbruch und Angst“, beschreibt Hannes Ametsreiter, Geschäftsführer von Vodafone Deutschland, die Stimmung in der deutschen Gesellschaft. Neues könne man jedoch nur auf Zuversicht und Mut aufbauen: „Verhinderung ist selten gut – wir müssen uns auf Veränderungen einstellen“, sagt Ametsreiter.

Diesen Standpunkt vertritt auch Chris Boos, Geschäftsführer der Frankfurter Arago GmbH und Mitglied des Digitalrates der Bundesregierung: „Wir sind gegenüber der Veränderung zurückhaltend, weil es Deutschland aktuell sehr gut geht und wir viel zu verlieren haben.“ Die Risikovermeidung stehe an höchster Stelle, was langfristig die wirtschaftliche Stellung der Bundesrepublik gefährden könne.

Tatsächlich ist Deutschland im globalen Index für Wettbewerbsfähigkeit des Weltwirtschaftsforums (WEF) dieses Jahr vom dritten auf den siebten Platz zurückgefallen. Laut dem Bericht ergeben sich düstere Aussichten für die Kategorie Informations- und Kommunikationstechnologie – mit dem 36. Platz liegt Deutschland in diesem Bereich fernab der Weltspitze. Gerade in der Industrie „sollten wir alles automatisieren, was geht“, findet Boos. Menschen sollten sich mit den großen Fragen unserer Zeit und der Arbeit mit anderen Menschen beschäftigen und industrielle Aufgaben, wenn möglich, Maschinen und künstlicher Intelligenz überlassen.

 „Zurückhaltung schafft keine Jobs“

Doch genau diese Ansichten scheinen viele Bürger zu verunsichern – drei Viertel der Befragten des Technik-Radars befürchten den Verlust von Arbeitsplätzen durch die Digitalisierung. Diese Angst ist nicht unbegründet: Gerade in der Automobilindustrie, in der fast 840.000 Beschäftigte arbeiten und von der mindestens ebenso viele Arbeitsplätze indirekt abhängen, prognostizieren Experten einen strukturellen Wandel.

Einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) zufolge könnten in der Autobranche bis 2030 rund 125.000 Stellen wegfallen – das wäre fast jeder siebte Arbeitsplatz in diesem Sektor. Maßgeblich dafür verantwortlich sind laut der Studie Produktivitätssteigerungen durch Automatisierungsprozesse in der Fertigung und die Auswirkungen der Umstellung auf Elektroautos, kurz: die Digitalisierung. Durch sie entstehe nach Ansicht des IAO eine grundlegende Veränderung der Produkte, aber auch der Produktion. Das bedeute jedoch nicht zwangsläufig den Abbau von Arbeitsstellen. Denn der Strukturwandel birgt auch Beschäftigungspotentiale durch neue Tätigkeiten oder Wachstumseffekte, die in der Studie nicht berücksichtigt werden.

Anja Hendel, Leiterin des Porsche-Digital-Lab, sieht darin die Chance, ohne die befürchteten Jobkürzungen von der Digitalisierung zu profitieren: „Technologischer Fortschritt kommt nicht von heute auf morgen, es ist eine Kombination vieler verschiedener Faktoren. Viele Entwicklungen helfen dabei, Prozesse zu verbessern und auch den Beschäftigten bei ihrer täglichen Arbeit.“ Beschäftigte könnten schließlich auch zu hohe Arbeitsbelastungen haben. „Wir können die Stärke des aktuellen Wachstums nutzen und Technologien ausbauen, ohne direkt Stellen zu kürzen“, sagt Porsche-Digital-Lab-Leiterin Hendel. „Wenn wir die Zukunft gestalten wollen, müssen wir die Digitalisierung aber begreifen.“

Dazu seien vor allem Transparenz und Aufklärung nötig. Bei der Debatte um mögliche Arbeitsplatzverluste steht für Bundesdigitalrats-Mitglied Boos fest: „Die Angst vor Stellenverlusten ist berechtigt, die Reaktion allerdings falsch. Zurückhaltung schafft keine Jobs.  Nur wer Veränderungen vorantreibt, kann langfristig vorne mitspielen.“

Verständnis schafft Akzeptanz für technologischen Fortschritt

Die Unsicherheit in der Gesellschaft besteht dennoch. Neben dem Verlust von Arbeitsplätzen sind Befürchtungen eines Kontrollverlusts über die eigenen Daten weit verbreitet: Laut des Technik-Radars äußerten sich über 60 Prozent der Befragten diesbezüglich beunruhigt. Die deutsch-irakische Programmiererin, Rednerin und Autorin Aya Jaff gilt als eines der größten Talente der deutschen Digitalszene. Mit 23 Jahren ist sie bereits Gründerin der „Codedesign Factory“, war dank eines Stipendiums für einen Forschungsaufenthalt im Silicon Valley und wurde kürzlich vom Forbes Magazin in die „Top 30 bis 30“ – Liste gewählt.

Für Jaff besteht ein klarer Wahrnehmungsunterschied zwischen Experten und Laien hinsichtlich der Digitalisierung: „Wenn ich zum Beispiel das Publikum auf einem Event frage, was künstliche Intelligenz ist, kommen oft Horrorszenarien von Robotern, die auf die Menschheit losgehen. Technologieexperten hingegen sehen einfach einen Algorithmus, der eine Sache richtig gut macht und das ist alles.“ Das zeige sich auch im Umgang mit Daten: „In den USA haben die Leute ein ganz anderes Verständnis von Daten – sie wissen zum Beispiel, dass beim Onlineshopping das Mausverhalten der Nutzer analysiert wird.“ Mangelndes Wissen sorge für Ablehnung und schüre Ängste. Deshalb sei eine frühe digitale Bildung ganz entscheidend - unabhängig vom Berufsziel, betont Jaff.

Ein Zusammenhang zwischen technologischem Verständnis und der Akzeptanz der Digitalisierung zeigt sich auch im Technik-Radar: „Wie aufgeschlossen Menschen für Veränderungen im Zuge der Digitalisierung sind, hängt auch davon ab, ob man sich selbst in der Lage sieht, die Risiken im Umgang mit der Digitalisierung kompetent bewältigen zu können“, schreiben die Verfasser der Studie. So haben beispielsweise Dänen, Schweden und Niederländer, die ihre digitale Kompetenz im europäischen Vergleich überdurchschnittlich gut bewerteten, auch positivere Erwartungen an die Digitalisierung. Die Deutschen liegen mit durchschnittlichem Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten auch hinsichtlich ihres Optimismus im europäischen Mittelfeld. 

Laut Vodafone-Deutschland-Chef Ametsreiter müssen Politik und Technikbranche sich deshalb stärker bemühen, die Gesellschaft durch Bildung für Technologie zu begeistern: „Programmieren sollte die zweite oder dritte Fremdsprache sein. Die Leute müssen die Digitalisierung verstehen.“

Keine Probleme mit Technologie, sondern mit Lernprozessen in den Unternehmen

Der Amerikaner Kimo Quaintance ist Bildungsstratege und Mitgründer der Münchner Innovationsberatung IQ Gemini. Seit Jahren erforscht er das oft schwierige Verhältnis von Mensch und Technik und wie mittels richtiger Bildung die daraus entstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen gelöst werden können. Laut Quaintance führt technisches Verständnis nicht zwangsweise zu weniger Verunsicherung – gerade die in Deutschland vorherrschende Befürchtung des Datenmissbrauchs sei nur zu Teilen der Unwissenheit geschuldet.

Vielmehr sei sie an persönliche Erfahrungen und kulturelle Gegebenheiten geknüpft: „Die Deutschen sind immer sehr skeptisch bei neuen Dingen – Amerikaner hingegen haben eine Affinität zu neuer Technologie und glauben oft, dass wir durch sie all unsere Probleme lösen können. Die US-Haltung kommt von positiven Erfahrungen mit Technik in der Vergangenheit wie zum Beispiel der Mondlandung“, erklärt Quaintance. Die deutsche Skepsis sei durch ein anderes Verständnis von Privatsphäre geprägt, Datenschutz in der Bundesrepublik im Gegensatz zur USA eng mit der Menschenwürde verknüpft.

Zudem sei Technologie nicht immer die Antwort auf ein Problem. „Die deutsche Skepsis hat auch etwas Positives, denn es ist wichtig, gewisse Werte zu wahren und Neues kritisch zu hinterfragen“, sagt der Bildungsstratege. Das sei durch die Eigenschaften der Technologie, die wir im Alltag verwenden, nicht immer gegeben.

Demgegenüber stünde Technologie in den Unternehmen: Angestellte könnten die konkrete Anwendung zwar lernen – Führungskräfte müssten jedoch zugleich „viel mehr darüber lernen, wie die Leute Technik nutzen und warum sie sich gegebenenfalls wehren, wenn sie in ihren Arbeitsalltag integriert wird“, bemängelt Quaintance.

Problematisch sei sowohl in den USA als auch in Deutschland, dass die meisten Unternehmen nicht auf die Weiterbildung der Mitarbeiter innerhalb ihres Arbeitsalltags ausgelegt seien. Der Arbeitsplatz sollte ein Umfeld sein, das zum Lernen anregt: „Die meisten Unternehmen, die sich mit der Digitalisierung schwertun, haben keine Probleme mit der Technologie an sich, sondern mit den Lernprozessen innerhalb der Firma“, sagt der Bildungsstratege.

Um die Digitalisierung verantwortungsbewusst voranzutreiben empfiehlt Quaintance, digitale Kompetenzen bereits bei Kindern zu stärken. Programmieren als Schulfach ist seiner Ansicht nach dafür nicht der richtige Weg: „Für die meisten Leute, Kinder eingenommen, sind die Berührungspunkte mit der digitalen Welt auf einer ganz anderen Ebene. Sie brauchen ein Grundverständnis für Technologie im Alltag, um beispielsweise Inhalte im Internet kritisch zu interpretieren, zu verstehen und zu hinterfragen.“

Ein Beispiel für eine gelungene frühe Förderung sei das Schulsystem in Taiwan: „Seit letztem Jahr sind dort digitale Komponenten in jedes Schulfach eingebaut. Das hilft den Kindern, ein Gefühl für den Umgang mit neuen Technologien zu bekommen.“ Ein grundsätzliches und zugleich kritisches Interesse der Gesellschaft für die Digitalisierung zu wecken, sei wichtig, denn mit dem Fortschritt stelle sich auch die Frage, auf welche Weise die Zukunft aller gestaltet werden sollte.

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