Erweiterte Realität „Sieht gut aus“, sagt der Fachmann – und löst sich im Nichts auf

Besser kochen mit AR? Unser Redakteur Thomas Kuhn (r.) mit TV-Koch Steffen Henssler. Quelle: Vodafone

Bisher waren AR-Brillen zu klobig und zu schwer. Die neue Nreal-Brille soll das ändern – und ein virtuelles Kochbuch die erste alltagstaugliche Anwendung für daheim sein. Klappt das?

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Eigentlich ist Steffen Henssler nicht viel kleiner als ich. Doch als ich an diesem Märznachmittag am Induktionsherd stehe, ist der Fernsehkoch, der vor mir auf der Küchenarbeitsplatte herumturnt, kaum größer als der Schneebesen, mit dem ich das Eiweiß schlage. Ich bereite in einer Kochschule im Düsseldorfer Hafen meine Lieblingssüßspeise zu, einen Kaiserschmarrn, und Henssler verfolgt aufmerksam meine Bewegungen. Sein Blick folgt meinem, als ich mich über die Schüssel beuge, um zu prüfen, ob der Eischnee langsam steif wird. „Das sieht gut aus“, sagt der Fachmann, nickt aufmunternd – und löst sich im Nichts auf.

Den vermeintlichen Experten hat mir die neue Augmented-Reality-Brille des chinesischen Herstellers Nreal in Form eines 3D-animierten Avatars ins Blickfeld gerückt. Er verrät mir, wie ich den Eischnee so unter den Teig hebe, dass er später im Ofen fluffig aufgeht.

Der digitale Henssler ist der Star einer Koch-App, die der Kommunikationskonzern Vodafone voraussichtlich Ende März – im Paket mit der AR-Brille und einem neuen Smartphone des chinesischen Herstellers Oppo – auf den Markt bringen will. „Wir bringen die erweiterte Realität in einer neuen Form in den privaten Lebensalltag unserer Kunden“, verspricht Vodafone-Deutschlandchef Hannes Ametsreiter.

Quelle: Screenshot

Es ist der Versuch, ein ebenso faszinierendes wie altes Technikversprechen endlich einzulösen: virtuelle Welten und die reale Umgebung mithilfe vernetzter Brillen zu verschmelzen und so eine neue, erweiterte Realität zu schaffen. Doch auch rund ein Jahrzehnt nachdem etwa Googles Computerbrille Glass mit ihrem integrierten Mikrobildschirm für Aufsehen sorgte, hängen AR-Brillen in der Nische fest.

Aus dem ICE in die heimische Küche

Sie haben ihre Fans unter Computerspielern oder im industriellen Einsatz. Dort bekommen Monteure etwa bei komplexen Reparaturen an Maschinen Montageschritte oder die Ansatzpunkte fürs Werkzeug in Spezialbrillen wie Microsofts Hololens angezeigt. Eine Technologie, die beispielsweise die Deutsche Bahn bei der Wartung ihrer ICE-Züge nutzt. Für den privaten Lebensalltag hingegen waren Computerbrillen bisher zu schwer, klobig und teuer. An nützlichen Anwendungen fehlte es ebenfalls.

Das soll die Nreal-Brille mit Vodafone-Software nun ändern. Mit nur 106 Gramm Gewicht ist sie bemerkenswert leicht geraten. Bei der Virtual-Reality-Brille Oculus Go lastet mit knapp einem halben Kilogramm fast fünfmal so viel Gewicht auf dem Kopf des Trägers. Die Nreal-Brille sieht zudem sehr unauffällig aus – trotz zweier integrierter Kameras, mehrerer Bewegungssensoren, Stereolautsprechern und zwei Mikrobildschirmen, die oberhalb der Augen im Brillengestell stecken. Die Nreal ist kaum breiter und größer als eine etwas ausladendere Sonnenbrille.

Quelle: Screenshot

Ihre kompakte Größe und das vergleichsweise geringe Gewicht verdankt die Nreal-Brille einer radikalen technologischen Diät: Sie funktioniert nur im Zusammenspiel mit einem leistungsstarken Smartphone. Dessen Prozessor und Grafikchips übernehmen die Rechenarbeit für die 3D-Simulationen, die sie dann vor die Augen des Nutzers projizieren. Die Videos und im Fall des Kochkurses auch die Rezepte lädt sich die Brille via WLAN, LTE- oder 5G-Mobilfunk aus dem Netz. Auch Akku und Arbeitsspeicher leiht sich die Nreal beim Handy.

All das spart Gewicht, führt allerdings dazu, dass die Brille über ein Kabel mit dem Telefon verbunden sein muss, um zu funktionieren.

Mega-Bildschirme schweben im Zimmer

Sobald der Nutzer den Brillenstecker ins Handy einsteckt, startet eine spezielle App, „Nebula“ genannt. Mit deren Hilfe bereitet Nreal die Inhalte der Anwendungen auf dem Smartphone für die Wiedergabe in der Brille auf. Das können genauso gut Youtube-Videos sein, wie Kartendienste, die E-Mail-App oder auch TV-Mediatheken. Alle lassen sich mithilfe des Handys wie auf großen, virtuellen Leinwänden an verschiedenen Stellen im Raum platzieren. Dabei fungiert das Telefon wie eine Art Laserpointer, durch dessen Bewegung der Nutzer die Leinwände im Raum verschiebt oder verankert. 

Das alles funktioniert fast intuitiv, sodass es nur ein paar Minuten braucht, um sich mit der Bedienung vertraut zu machen und die gewünschten Apps im Blickfeld zu positionieren. Und das mit einem unerwartet guten Bild. Denn die beiden Minidisplays zeigen Bilder und Videos in HD-Auflösung; und damit ebenfalls deutlich feiner, als es bei älteren Computerbrillen üblich war, deren Darstellung vielfach sehr pixelig war.

Und die Brille überrascht noch mit einer weiteren Fähigkeit. Die Nreal ist in der Lage, die simulierten Bildschirme auch dann exakt an den einmal ausgewählten Stellen im Raum einzublenden, wenn der Nutzer sich dabei bewegt. Andere Videobrillen brauchen dazu externe Positionssender.

Soufflieren zwischen den Pfannen

Wie gut das klappt, zeigt sich auch beim Probekochen mit dem virtuellen Küchenchef in Düsseldorf. Ich habe mir das Bild der Koch-App in rund eineinhalb Metern Entfernung, leicht geneigt, hinter den Kochplatten positioniert; fast wie das Kochbuch, dass ich sonst schon mal hinter dem Herd an die Küchenwand lehne. Und dort bleibt das Bild auch dann noch zuverlässig stehen, wenn ich mich mehrfach auf der Stelle drehe, den Kopf hebe oder senke oder auch im Raum herumlaufe.

Sobald ich an den Herd zurückkehre, souffliert mir dort der Fachmann schwebend hinter Pfannen und Schüsseln in einem kleinen Videobild, wie ich den Kaiserschmarrn optimal zubereite. An besonders sensiblen Stellen erscheint in meinem Sichtfeld neben dem Herd sogar zusätzlich eine 3D-Animation des Kochs mit nützlichen Tipps. Ist die Klippe gemeistert, löst sich der Avatar wieder auf.

Um zu verhindern, dass das Handy beim Kochen verschmutzt, wenn man mit schmierigen oder mehligen Fingern darauf herumwischt, lässt sich jeder Zubereitungsschritt auch mit Blicken steuern. Die Brille erkennt, wohin der Benutzer schaut. Wenn das Auge für einen Moment auf einem virtuellen Bedienfeld verharrt, kann der Nutzer ohne händisches Zutun zum nächsten Schritt im Rezept springen, das Video vor- oder zurückspulen oder auch einen Timer setzen.

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Voraussichtlich in der zweiten Märzhälfte will Vodafone mit dem Handypartner Oppo und der Online-Rezepte-Plattform Kitchen Stories in den Vertrieb von Brille, Handy und App starten. Die ersten paar Rezepte mit Steffen Henssler gibt’s in der App ab Werk. Wer weitere nachkochen möchte, wird sie als In-App-Kauf erwerben können.

Im Fall des Probekochens beim Techniktest in Düsseldorf, war der Profikoch übrigens nicht nur virtuell, sondern auch live dabei und hat meinen Kaiserschmarrn persönlich probiert. Der sei, befand der Fachmann, „echt gut gelungen“. Was den Hobbykoch dann doch noch einen Tick zufriedener macht, als es Hensslers Avatar je schaffen wird.

Mehr zum Thema: Videokonferenz war gestern. Die Zukunft könnte der Zusammenarbeit per Augmented-Reality gehören. Verhilft ausgerechnet Corona der Technologie zum Durchbruch?

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