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Wie die Digitalisierung Wertschöpfung neu definiert

Die meisten der Hidden Champions haben sich ihren Ruf hart erarbeitet. Digitale Technologien läuten jedoch jetzt einen Paradigmenwechsel in der Wertschöpfung ein. Und da beginnen die Probleme.

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Werner-Vogels Quelle: Presse

Die „Hidden Champions“ in Deutschland – Familienunternehmen, Maschinenbauer, Spezialisten – sind weltweit einzigartig. Sie stehen für Qualität, Verlässlichkeit, und ein großes Maß an Know-how in der Produktion. Nicht zuletzt durch den Beitrag dieser Unternehmen konnte Deutschland als eines der wenigen Länder in Westeuropa den Anteil der fertigenden Industrie an der gesamten Wertschöpfung bei über 20% halten, während benachbarte Länder einen kontinuierlichen Rückgang verzeichneten. Digitale Technologien und Geschäftsmodelle im Einsatzbereich Industrie 4.0 haben das Potenzial, diesen Vorsprung weiter zu festigen: Schätzungen des Branchenverbandes Bitkom und des Fraunhofer IAO zufolge könnten sie bis 2025 einen signifikanten Teil des deutschen Wirtschaftswachstums sichern und auch Arbeitsplätze schaffen. Gleichzeitig sind sich viele Experten einig, dass das grundsätzliche Potenzial von Industrie 4.0 noch nicht voll genutzt wird.

Beharrungskräfte versus Anpassungsgeschwindigkeit

Die meisten der Hidden Champions haben sich ihren Ruf hart erarbeitet: Über Jahrzehnte haben sie ihre Abläufe immer wieder optimiert. Sie haben ihre Prozesse perfektioniert und hochwertige Produkte für ihre Kunden entwickelt. Das hat sich für sie ausgezahlt und zahlt sich immer noch aus.

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Digitale Technologien läuten jetzt jedoch einen Paradigmenwechsel in der Wertschöpfung ein. Die Fertigung kann komplett digitalisiert und zu einem „Internet der Dinge“ (IoT) vernetzt werden, welches über die Cloud gesteuert wird. Und das ist nicht die einzige Veränderung: Es entstehen neue Datenströme, mit denen Unternehmen über Cloud Analytics ganz neue Erkenntnisse über ihre Tätigkeit gewinnen und ebenso über die Art und Weise, wie Kunden ihr Angebot nutzen. Das zwingt Mittelständler, Silos zwischen den Abteilungen aufzubrechen, über die traditionellen Tätigkeitsbereiche hinaus zu denken, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Und tatsächlich hat fast jedes Industrieunternehmen in Deutschland bereits irgendein Digitalisierungsprojekt angestoßen. Die meisten heben dabei weitere Effizienzreserven bei der Fertigung, indem sie digitale Technologien einsetzen, manche gründen Firmen aus oder setzen Pilotprojekte auf, aus denen Showcases entstehen. Viele Initiativen kommen aber über genau diesen Status nicht hinaus. Das Kerngeschäft, das ja noch gut läuft, bleibt unangetastet. Ein wesentlicher Grund ist, dass IT-Verantwortliche in mittelständischen Unternehmen manchmal zu wenig bei der Strategie mitreden dürfen.

Digital or dead: So überleben Sie die digitale Zukunft

Reichen diese Initiativen aus, um die Pole Position des Mittelstandes zu sichern? Wahrscheinlich nicht. Die Anbieter in aufstrebenden Märkten werden immer besser: Die Industrie in China zum Beispiel durchläuft in Riesenschritten eine Entwicklung, die andernorts lange Jahre gedauert hat. Die Rolle von Fertigungsunternehmen im Reich der Mitte befindet sich im Wandel: Von einer globalen Werkbank mit Niedriglöhnen hin zu einem Anbieter von fortschrittlicher Technologie. Unter anderem deshalb sind sich Marktführer aus Deutschland dessen bewusst, dass sie es sich nicht leisten können, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen.

Auch durch die Wettbewerber von der Softwareseite wird die industrielle Wertschöpfung neu aufgerollt. Die Angebote dieser Unternehmen schaffen neben dem traditionellen Geschäft der Maschinenbauer, Werkzeugspezialisten und Systemanbieter einen komplett neuen Markt. Wenn neue Analyse-Dienstleister, spezialisierte Softwareanbieter und Unternehmen, die diese komplementären Angebote bündeln, auf den Plan treten, könnte das Kerngeschäft der Mittelständler mit einem Mal zu einem Modul unter vielen werden: Manufacturing-as-a-Service.

Leichter Einstieg in die smarte Fabrik

Mehrwert entsteht im Industrie-4.0-Umfeld häufig dann, wenn B2B-Unternehmen in ihrem Geschäft B2C-Ansätze integrieren und damit einen Wandel in der Industrie initiieren. Dazu gehört die stetige Verbesserung und Erweiterung von Lösungen durch agile Entwicklungsprozesse. Die Software, die in der „digitalen Fabrik“ eine immer größer werdende Rolle spielt, wird ständig um Funktionalitäten erweitert, beispielsweise indem der Shopfloor zunehmend mit Daten „von außen“, wie der Logistik oder Warenwirtschaft, vernetzt wird. Schon heute lassen sich klassische Komponenten aus der Industrieautomatisierung von Anbietern wie Beckhoff, Harting, WAGO oder anderen nahtlos an die Cloud anbinden. Hidden Champions aus der Automatisierungstechnik digitalisieren ihre Produkte und ermöglichen ihren Kunden auf diese Weise einen leichten Einstieg in die „smarte Fabrik“, also einer Umgebung, in der sich Produktionsanlagen und Logistiksysteme weitgehend selbst organisieren, ohne dass es eines Menschen bedarf, der sie steuert. Ein großartiges Beispiel für diese Art von digitaler Transformation ist General Electric. CEO Jeffrey Immelt umschrieb den Wandel folgendermaßen: „Noch letzte Nacht seid ihr als Industrieunternehmen schlafen gegangen - und heute Morgen wacht ihr als Software- und Analyticsunternehmen auf.“

Was Roboter schon heute alles können
Im Geschäft persönlich vom Roboter begrüßt zu werden - auch das kann bald für mehr Menschen Realität sein. „Pepper“ hat Knopfaugen, und er ist in astreinem Deutsch recht schonungslos: „Meiner bescheidenen Meinung nach ist dieses Modell nicht besonders schmeichelhaft für Ihre Figur. Dürfte ich Ihnen ein paar neu eingetroffene Modelle zeigen, die mir für Sie besonders gut gefallen?“ Eigene Infos werden per QR-Code auf dem Smartphone gespeichert, den der Roboter im Geschäft dann scannt. In Japan ist Pepper (von SoftBank) bereits aktiv. Quelle: dpa
„iPal“ ist ein künstlicher Freund und Spielgefährte. Der Roboter ist so groß wie ein sechsjähriges Kind. Er kann singen und tanzen, Geschichten vorlesen und spielen. Durch Gesichtserkennung und automatisches Lernen wird „iPal“ mit der Zeit immer schlauer. Er erinnert sich an Vorlieben und Interessen des Kindes. „iPal“ ist keine gefühllose Maschine“, behauptet John Ostrem vom Hersteller AvatarMind. „Er kann Emotionen erspüren und fühlt, wenn das Kind traurig ist.“ Der Roboter, der in rosa oder hellblau angeboten wird, übernimmt auch gleich ein paar vielleicht leidige Erziehungspflichten: Der eingebaute Wecker holt das Kind aus dem Schlaf. Die Wetter-App sagt ihm, was es anziehen soll, und eine Gesundheits-App erinnert ans Händewaschen. „iPal“ wurde vor allem für den chinesischen Markt entwickelt. Ostrem erläutert: „Dort gibt es in den Ein-Kind-Familien viele einsame Kinder, deren Eltern wenig Zeit haben und die einfach niemanden zum Spielen haben.“ Anfang 2016 soll es „iPal“ dort für etwa 1000 US-Dollar (knapp 900 Euro) geben. Quelle: dpa
Wer auf Reisen die Zahnbürste vergessen hat, kann sie bald von einer freundlichen Maschine aufs Zimmer gebracht bekommen. „Relay“, der Service-Roboter, wird in einigen US-Hotels im Silicon Valley getestet. Die Rezeptionistin legt Zahnbürste, Cola oder Sandwich in eine Box im Roboter, dann gibt sie die Zimmernummer des Gastes ein. „Relay“ kann sich selbst den Fahrstuhl rufen – auch wenn er noch ziemlich lange braucht, um wirklich einzusteigen. Er scannt vorher sehr ausgiebig seine gesamte Umgebung, um ja niemanden umzufahren. Vor der Zimmertür angekommen, ruft der Roboter auf dem Zimmertelefon an. Wenn der Hotelgast öffnet, signalisiert ihm „Relay“ per Touchscreen: Klappe öffnen, Zahnbürste rausnehmen, Klappe wieder schließen. „Das Hotel ist für uns erst der Anfang“, sagt Adrian Canoso vom Hersteller Savioke. „Wir wollen „Relay“ auch in Krankenhäuser, Altenheime und Restaurants bringen, einfach überall dahin, wo Menschen essen oder schlafen.“ Quelle: PR
„Budgee“ trägt die Einkäufe und rollt hinterher. Per Funksender in der Hand oder am Gürtel gesteuert, kann er bis zu 22 Kilogramm schleppen, so der US-Hersteller. Er folgt Herrchen oder Frauchen mit mehr als 6 Kilometern pro Stunde. Die Batterie hält angeblich zehn Stunden. „Budgee“ lässt sich zusammenklappen und im Kofferraum verstauen. Die ersten Vorbestellungen werden ausgeliefert, Stückpreis rund 1400 US-Dollar. Quelle: PR
Roboter können nicht nur Einkäufe schleppen, sondern auch für viele Menschen unliebsame Arbeiten im Haushalt abnehmen – und damit sind nicht nur die Staubsaug-Roboter gemeint. Der „PR2“ des Institute for Artificial Intelligence (IAI) der Universität Bremen kann auch in der Küche zur Hand gehen, zumindest in der Laborküche. Quelle: dpa
Ja, heutige Roboter können bereits feinmotorische Aufgaben übernehmen und etwa zuprosten, ohne dass das Sektglas zu Bruch geht. Das ist aber nicht die Besonderheit an diesem Bild. Der Arm rechts gehört Jordi Artigas, Wissenschaftler am Institut für Robotik und Mechatronik des Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen bei München. Der Roboterarm wird von Sergei Wolkow gesteuert – und der war nicht in Oberpfaffenhofen, sondern auf der Internationalen Raumstation ISS, wie im Hintergrund auf dem Monitor schemenhaft zu erkennen ist. Der „Tele-Handshake“ war nach Angaben des DLR ein weltweit einzigartiges Experiment. Quelle: dpa
Solche Aufgaben, wie etwa dieses Zahnrad zu greifen und weiterzugeben, konnte der DLR-Roboter „Justin“ schon 2012. Dass er aus dem All gesteuert wird, ist jedoch neu und bislang einzigartig. Quelle: dpa

Effiziente Individualisierung

Das Beispiel Stölzle Oberglas – ein führender österreichischer Glashersteller – zeigt, wie ein Industrieunternehmen Gesetzmäßigkeiten der Konsumgüterindustrie mit seinem Geschäftsmodell verknüpft. Entscheidet sich ein Kunde des Glasherstellers kurzfristig – etwa anlässlich eines sportlichen Großereignisses – eine Sonderedition zu verkaufen, auf welcher der Name des siegreichen Teams steht, muss Stölzle kurzfristig liefern. Dieses hoch individualisierte Produkt darf im Zeitalter der Digitalisierung jedoch nicht teurer sein als ein Produkt von der Stange. In der Vergangenheit wären die Kosten zu hoch gewesen, um einen derartigen Sonderwunsch zu erfüllen. Stölzle kann das heute leisten, weil es mit Hilfe des Softwareanbieters Actyx Daten im gesamten Produktionsprozess zusammengeführt hat, sie intelligent analysiert und darstellt. Damit können veränderte Spezifikationen praktisch in Echtzeit in den Produktionsprozess einfließen. Die Umsetzung erfolgt mittels Cloud-Technologie. Kundengetriebenes Innovieren im Industrie 4.0 Umfeld macht hier aber noch nicht halt. Actyx nutzt die Erkenntnisse aus dieser spezifischen Anforderung, entwickelt die Lösung weiter und macht sie über sein Lösungsportfolio auch anderen Anwendern zugänglich – ähnlich wie wir auch bei Amazon Web Services vorgehen, wenn wir auf konkretes Kundenfeedback hin neue Features und Dienste entwickeln und diese dann für alle unsere Nutzer verfügbar machen.

Ökosystem zusätzlicher Services

Für die Hidden Champions wird es künftig auch erfolgskritisch sein, das Wissen von „Digital Natives“ sinnvoll mit ihrem Ingenieurs-Know-how zu verbinden. Fast täglich entstehen im Silicon Valley, in Tel Aviv, London und Berlin Startups. Das Geschäftsmodell vieler dieser neuen Firmen besteht darin, durch einen neuen digitalen Dienst einen noch größeren Wert für den Anwender einer Maschine oder eines Geräts zu schaffen. Mit den Sensoren, die in einem ersten Schritt Maschinen und Produkte im „Internet of Things“ verbinden, werden dann aber auch Dienstleistungen möglich, die nicht mehr auf die Fertigungsstraße beschränkt sind. Gleichzeitig bergen derartige Experimente nur ein geringes Risiko, da sich in der Cloud exakt die Dienste und die Rechnerleistung buchen lassen, die für den jeweiligen Anwendungszweck auch tatsächlich gebraucht werden.

Den Wandel wagen

Solche Dienste entwickelt WATTx in Berlin. Als unabhängige Ausgründung des 100 Jahre alten Heizungsbauers Viessmann, wurde WATTx ursprünglich von den Firmeneigentümern ins Leben gerufen, um die Standardprodukte von Viessmann um digitale Mehrwerte zu ergänzen. Dazu gehören intelligente digitale Services, etwa eine IoT Plattform für kommerziell genutzte Gebäude. Auf Basis von Informationen, die Sensoren innerhalb und außerhalb des Gebäudes melden, lassen sich Heizungsanlagen, Beleuchtung und Verdunkelung der Fenster aus der Ferne regeln. Inzwischen macht WATTx aber viel mehr als das. Die Unternehmensphilosophie besteht darin, digitale Talente in Berlin zusammenzubringen und mit unbegrenztem Zugang zu neuen Technologien wie der Cloud auszustatten. Das ermöglicht einerseits, Ideen sehr schnell in die Realität zu übertragen, aber auch schnell zu verwerfen, wenn sie nicht realisierbar sind. Diese Ideen werden im Übrigen auch hier entwickelt und erprobt, bevor sie als neue Unternehmen an den Markt gehen. Viessmann entwickelt Mehrwertdienste rund um Ausgangsprodukte wie beispielsweise Heizung und Thermostate inzwischen in Eigenregie. Dadurch sichert sich das Traditionsunternehmen den Kontakt zum Endkunden, aber erforscht mit Hilfe von WATTx auch völlig neue Märkte.

Die großen Veränderungen im Blick behalten

Software und Services sind Bereiche, in denen sich der Hersteller einer Maschine oder eines Gerätes, anfangs häufig nicht zuhause fühlt – schlicht, weil es bislang nicht zu seinem Kerngeschäft gehört hat. Kurzfristig scheint es ein hohes Risiko zu sein, grundsätzlich funktionierende Prozesse zu verändern. Fehlt jedoch die strategische Dimension bei Industrie-4.0-Projekten, kann dies dazu führen, dass viele eben keine bahnbrechenden Mehrwerte schaffen – weder auf mikro- noch auf makroökonomischer Ebene. Langfristig ist das Risiko dann groß, von agileren Wettbewerbern überholt zu werden, weil man keine neue Marschroute in einem globalen Ökosystem von Maschinen, Produkten und digitalen Services eingeschlagen hat. Wer hingegen den Wandel wagt und auf der Grundlage von Cloud-Technologien, neue Ansätze und Lösungen implementiert, leistet damit einen wesentlichen Beitrag dazu, dass der hart erarbeitete Stellenwert der Industrie erhalten bleibt und über die Zeit vielleicht sogar noch größer wird.

Werner Vogels hat als CTO von Amazon.com täglich mit Entwicklungen und Veränderungen der digitalen Transformation zu tun. Er schreibt in seiner Kolumne regelmäßig über relevante Fragen und Folgen der Digitalisierung.

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