Die „Hidden Champions“ in Deutschland – Familienunternehmen, Maschinenbauer, Spezialisten – sind weltweit einzigartig. Sie stehen für Qualität, Verlässlichkeit, und ein großes Maß an Know-how in der Produktion. Nicht zuletzt durch den Beitrag dieser Unternehmen konnte Deutschland als eines der wenigen Länder in Westeuropa den Anteil der fertigenden Industrie an der gesamten Wertschöpfung bei über 20% halten, während benachbarte Länder einen kontinuierlichen Rückgang verzeichneten. Digitale Technologien und Geschäftsmodelle im Einsatzbereich Industrie 4.0 haben das Potenzial, diesen Vorsprung weiter zu festigen: Schätzungen des Branchenverbandes Bitkom und des Fraunhofer IAO zufolge könnten sie bis 2025 einen signifikanten Teil des deutschen Wirtschaftswachstums sichern und auch Arbeitsplätze schaffen. Gleichzeitig sind sich viele Experten einig, dass das grundsätzliche Potenzial von Industrie 4.0 noch nicht voll genutzt wird.
Beharrungskräfte versus Anpassungsgeschwindigkeit
Die meisten der Hidden Champions haben sich ihren Ruf hart erarbeitet: Über Jahrzehnte haben sie ihre Abläufe immer wieder optimiert. Sie haben ihre Prozesse perfektioniert und hochwertige Produkte für ihre Kunden entwickelt. Das hat sich für sie ausgezahlt und zahlt sich immer noch aus.
Zum Autor
Dr. Werner Vogels ist CTO bei Amazon.com, wo er seit 2004 beschäftigt ist und kundenorientierte Technologievisionen vorantreibt.
Auch zuvor bekleidete er bereits zahlreiche Führungspositionen im Technologiebereich. Vogels, der an der Freien Universität in Amsterdam promovierte, hat außerdem zahlreiche Artikel über verteilte Systemtechnologien im Enterprise Computing verfasst.
Digitale Technologien läuten jetzt jedoch einen Paradigmenwechsel in der Wertschöpfung ein. Die Fertigung kann komplett digitalisiert und zu einem „Internet der Dinge“ (IoT) vernetzt werden, welches über die Cloud gesteuert wird. Und das ist nicht die einzige Veränderung: Es entstehen neue Datenströme, mit denen Unternehmen über Cloud Analytics ganz neue Erkenntnisse über ihre Tätigkeit gewinnen und ebenso über die Art und Weise, wie Kunden ihr Angebot nutzen. Das zwingt Mittelständler, Silos zwischen den Abteilungen aufzubrechen, über die traditionellen Tätigkeitsbereiche hinaus zu denken, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Und tatsächlich hat fast jedes Industrieunternehmen in Deutschland bereits irgendein Digitalisierungsprojekt angestoßen. Die meisten heben dabei weitere Effizienzreserven bei der Fertigung, indem sie digitale Technologien einsetzen, manche gründen Firmen aus oder setzen Pilotprojekte auf, aus denen Showcases entstehen. Viele Initiativen kommen aber über genau diesen Status nicht hinaus. Das Kerngeschäft, das ja noch gut läuft, bleibt unangetastet. Ein wesentlicher Grund ist, dass IT-Verantwortliche in mittelständischen Unternehmen manchmal zu wenig bei der Strategie mitreden dürfen.
Digital or dead: So überleben Sie die digitale Zukunft
Die Digitalisierung wird mittelfristig das Kerngeschäft der meisten Unternehmen beeinflussen. Führungskräfte müssen analysieren (lassen), wie sich die Spielregeln für ihre Branche verändern und die einzelnen Herausforderungen zu ihrer persönlichen Agenda machen.
Quelle: Digital or dead von Serhan Ili und Ulrich Lichtenthaler
Viele Firmen konzentrieren sich darauf, vor allem die Effizienz ihrer Produktion durch neue Technologien zu stärken. Wer sich aber ausschließlich auf technologiegetriebene Effizienzsteigerung konzentriert, verschenkt in Zukunft Wachstumschancen. Denn diese entstehen durch digitale und analoge Innovationen.
Führungskräfte müssen besonders vielversprechende digitale Lösungen für ihr Unternehmen identifizieren. Wenn sie ein oder mehrere Tools in der engeren Auswahl haben, sollten sie das Ausprobieren der Software im Unternehmen fördern.
Neben dem kurzfristigen Ausprobieren müssen Unternehmen auch langfristig für ihre IT-Zukunft planen. Schließlich sollen die neuen Softwarelösungen, die zum Geschäftsmodell passen, auch in die bestehende Unternehmens-IT integriert werden.
Der Ausgangspunkt der Digitalisierungsinitiative sollte keinesfalls die IT sein. Vielmehr sollten die damit befassten Entscheider zunächst ein klares Bild davon haben, welchen Nutzen die Digitalisierung dem Unternehmen bringen sollte. Auf dieser Grundlage sollte alsdann zunächst ein passendes Geschäftsmodell für die digitalen Aktivitäten entwickelt werden, bevor dieses dann innerhalb der IT tatsächlich umgesetzt wird.
Eine zentrale Gefahr für Industrieunternehmen ist das Auftreten neuer Komplettlösungsanbieter wie Uber, die direkt an der Schnittstelle zum Kunden arbeiten und diese besetzen. Umgehen kann man diese Gefahr mit der Entscheidung für eine interne Digitalisierungslösung.
Eine Stelle wie die des CDO zu schaffen, der die Digitalisierungsbemühungen koordiniert, ist sehr hilfreich. Der Chief Digital Officer braucht aber auch genügend Macht und Einfluss innerhalb des Unternehmens. Wenn sein Posten nur eine Alibifunktion innehat, nützt das wenig.
Über die koordinierende Funktion des Chief Digital Officers hinaus beinhaltet die Digitalisierung eines Unternehmens üblicherweise weitere, größere Veränderungen, die ein gewisses Maß an Beteiligung des ganzen Unternehmens erfordert. Die Unternehmenslenker müssen eine überzeugende Digitalisierungsgeschichte entwickeln, um die Einsatzbereitschaft aller Beteiligten sicherzustellen.
Unternehmen müssen bewegliche und flexible Innovationsprozesse anstoßen und weiterentwickeln - zumindest als Ergänzung für traditionellere, systematische Prozesse. Darüber hinaus ist es unabdingbar, ganze Produktlösungen innerhalb des geschäftlichen Umfelds zu optimieren, anstatt nur einzelne Produktspezifika zu verändern.
Digitalisierung erfordert neue Kompetenzen und beinhaltet oft die Veränderung bekannter und bewährter Geschäftsmodelle. Daraus folgt, dass Unternehmen offen für Hilfe von außen, nämlich von Digitalisierungsexperten, sein sollten, um den größtmöglichen Nutzen aus Innovation und den dazugehörigen Kompetenzen ziehen zu können.
Reichen diese Initiativen aus, um die Pole Position des Mittelstandes zu sichern? Wahrscheinlich nicht. Die Anbieter in aufstrebenden Märkten werden immer besser: Die Industrie in China zum Beispiel durchläuft in Riesenschritten eine Entwicklung, die andernorts lange Jahre gedauert hat. Die Rolle von Fertigungsunternehmen im Reich der Mitte befindet sich im Wandel: Von einer globalen Werkbank mit Niedriglöhnen hin zu einem Anbieter von fortschrittlicher Technologie. Unter anderem deshalb sind sich Marktführer aus Deutschland dessen bewusst, dass sie es sich nicht leisten können, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen.
Auch durch die Wettbewerber von der Softwareseite wird die industrielle Wertschöpfung neu aufgerollt. Die Angebote dieser Unternehmen schaffen neben dem traditionellen Geschäft der Maschinenbauer, Werkzeugspezialisten und Systemanbieter einen komplett neuen Markt. Wenn neue Analyse-Dienstleister, spezialisierte Softwareanbieter und Unternehmen, die diese komplementären Angebote bündeln, auf den Plan treten, könnte das Kerngeschäft der Mittelständler mit einem Mal zu einem Modul unter vielen werden: Manufacturing-as-a-Service.
Leichter Einstieg in die smarte Fabrik
Mehrwert entsteht im Industrie-4.0-Umfeld häufig dann, wenn B2B-Unternehmen in ihrem Geschäft B2C-Ansätze integrieren und damit einen Wandel in der Industrie initiieren. Dazu gehört die stetige Verbesserung und Erweiterung von Lösungen durch agile Entwicklungsprozesse. Die Software, die in der „digitalen Fabrik“ eine immer größer werdende Rolle spielt, wird ständig um Funktionalitäten erweitert, beispielsweise indem der Shopfloor zunehmend mit Daten „von außen“, wie der Logistik oder Warenwirtschaft, vernetzt wird. Schon heute lassen sich klassische Komponenten aus der Industrieautomatisierung von Anbietern wie Beckhoff, Harting, WAGO oder anderen nahtlos an die Cloud anbinden. Hidden Champions aus der Automatisierungstechnik digitalisieren ihre Produkte und ermöglichen ihren Kunden auf diese Weise einen leichten Einstieg in die „smarte Fabrik“, also einer Umgebung, in der sich Produktionsanlagen und Logistiksysteme weitgehend selbst organisieren, ohne dass es eines Menschen bedarf, der sie steuert. Ein großartiges Beispiel für diese Art von digitaler Transformation ist General Electric. CEO Jeffrey Immelt umschrieb den Wandel folgendermaßen: „Noch letzte Nacht seid ihr als Industrieunternehmen schlafen gegangen - und heute Morgen wacht ihr als Software- und Analyticsunternehmen auf.“
Effiziente Individualisierung
Das Beispiel Stölzle Oberglas – ein führender österreichischer Glashersteller – zeigt, wie ein Industrieunternehmen Gesetzmäßigkeiten der Konsumgüterindustrie mit seinem Geschäftsmodell verknüpft. Entscheidet sich ein Kunde des Glasherstellers kurzfristig – etwa anlässlich eines sportlichen Großereignisses – eine Sonderedition zu verkaufen, auf welcher der Name des siegreichen Teams steht, muss Stölzle kurzfristig liefern. Dieses hoch individualisierte Produkt darf im Zeitalter der Digitalisierung jedoch nicht teurer sein als ein Produkt von der Stange. In der Vergangenheit wären die Kosten zu hoch gewesen, um einen derartigen Sonderwunsch zu erfüllen. Stölzle kann das heute leisten, weil es mit Hilfe des Softwareanbieters Actyx Daten im gesamten Produktionsprozess zusammengeführt hat, sie intelligent analysiert und darstellt. Damit können veränderte Spezifikationen praktisch in Echtzeit in den Produktionsprozess einfließen. Die Umsetzung erfolgt mittels Cloud-Technologie. Kundengetriebenes Innovieren im Industrie 4.0 Umfeld macht hier aber noch nicht halt. Actyx nutzt die Erkenntnisse aus dieser spezifischen Anforderung, entwickelt die Lösung weiter und macht sie über sein Lösungsportfolio auch anderen Anwendern zugänglich – ähnlich wie wir auch bei Amazon Web Services vorgehen, wenn wir auf konkretes Kundenfeedback hin neue Features und Dienste entwickeln und diese dann für alle unsere Nutzer verfügbar machen.
Ökosystem zusätzlicher Services
Für die Hidden Champions wird es künftig auch erfolgskritisch sein, das Wissen von „Digital Natives“ sinnvoll mit ihrem Ingenieurs-Know-how zu verbinden. Fast täglich entstehen im Silicon Valley, in Tel Aviv, London und Berlin Startups. Das Geschäftsmodell vieler dieser neuen Firmen besteht darin, durch einen neuen digitalen Dienst einen noch größeren Wert für den Anwender einer Maschine oder eines Geräts zu schaffen. Mit den Sensoren, die in einem ersten Schritt Maschinen und Produkte im „Internet of Things“ verbinden, werden dann aber auch Dienstleistungen möglich, die nicht mehr auf die Fertigungsstraße beschränkt sind. Gleichzeitig bergen derartige Experimente nur ein geringes Risiko, da sich in der Cloud exakt die Dienste und die Rechnerleistung buchen lassen, die für den jeweiligen Anwendungszweck auch tatsächlich gebraucht werden.
Den Wandel wagen
Solche Dienste entwickelt WATTx in Berlin. Als unabhängige Ausgründung des 100 Jahre alten Heizungsbauers Viessmann, wurde WATTx ursprünglich von den Firmeneigentümern ins Leben gerufen, um die Standardprodukte von Viessmann um digitale Mehrwerte zu ergänzen. Dazu gehören intelligente digitale Services, etwa eine IoT Plattform für kommerziell genutzte Gebäude. Auf Basis von Informationen, die Sensoren innerhalb und außerhalb des Gebäudes melden, lassen sich Heizungsanlagen, Beleuchtung und Verdunkelung der Fenster aus der Ferne regeln. Inzwischen macht WATTx aber viel mehr als das. Die Unternehmensphilosophie besteht darin, digitale Talente in Berlin zusammenzubringen und mit unbegrenztem Zugang zu neuen Technologien wie der Cloud auszustatten. Das ermöglicht einerseits, Ideen sehr schnell in die Realität zu übertragen, aber auch schnell zu verwerfen, wenn sie nicht realisierbar sind. Diese Ideen werden im Übrigen auch hier entwickelt und erprobt, bevor sie als neue Unternehmen an den Markt gehen. Viessmann entwickelt Mehrwertdienste rund um Ausgangsprodukte wie beispielsweise Heizung und Thermostate inzwischen in Eigenregie. Dadurch sichert sich das Traditionsunternehmen den Kontakt zum Endkunden, aber erforscht mit Hilfe von WATTx auch völlig neue Märkte.
Die großen Veränderungen im Blick behalten
Software und Services sind Bereiche, in denen sich der Hersteller einer Maschine oder eines Gerätes, anfangs häufig nicht zuhause fühlt – schlicht, weil es bislang nicht zu seinem Kerngeschäft gehört hat. Kurzfristig scheint es ein hohes Risiko zu sein, grundsätzlich funktionierende Prozesse zu verändern. Fehlt jedoch die strategische Dimension bei Industrie-4.0-Projekten, kann dies dazu führen, dass viele eben keine bahnbrechenden Mehrwerte schaffen – weder auf mikro- noch auf makroökonomischer Ebene. Langfristig ist das Risiko dann groß, von agileren Wettbewerbern überholt zu werden, weil man keine neue Marschroute in einem globalen Ökosystem von Maschinen, Produkten und digitalen Services eingeschlagen hat. Wer hingegen den Wandel wagt und auf der Grundlage von Cloud-Technologien, neue Ansätze und Lösungen implementiert, leistet damit einen wesentlichen Beitrag dazu, dass der hart erarbeitete Stellenwert der Industrie erhalten bleibt und über die Zeit vielleicht sogar noch größer wird.
Werner Vogels hat als CTO von Amazon.com täglich mit Entwicklungen und Veränderungen der digitalen Transformation zu tun. Er schreibt in seiner Kolumne regelmäßig über relevante Fragen und Folgen der Digitalisierung.