Hackernetzwerk Wie Anonymous Scientology in die Knie zwang

Seite 8/10

Die Maske: Anonymous bekommt ein Gesicht

Leute mit Guy-Fawkes-masken Quelle: dpa

Am 26. Januar schickte jemand mit dem Spitznamen Anon Ymous eine E-Mail an die Gawker-Adresse für Tipps und kündigte einen Protest vor der Scientology-Filiale in Harlem an. „Setzt euch eine Maske auf“, hieß es darin. „Bringt einen Ghettoblaster mit. Rickrollt sie ohne Gnade. Wir kommen in die Schlagzeilen! LOL“ Unter der Nachricht stand ein Motto, das auch auf YouTube und in den Blogs zu lesen war:

Wir sind Anonymous

Wir sind Legion

Wir vergeben nicht

Wir vergessen nicht

Rechnet mit uns

Diese inzwischen berüchtigte Signatur, die von den Borg, Bösewichtern im Star-Trek-Universum, entlehnt sein könnte, stammt in Wirklichkeit aus den 47 Internet-Regeln. Nach den Regeln 1 und 2, die beide verbieten, über /b/ zu reden, hieß es da:

Regel 3. Wir sind Anonymous.

Regel 4. Anonymous ist Legion.

Regel 5. Anonymous vergibt nie.

Mitunter heißt es, die erste Person Plural in „Wir sind Legion“ sei von der Stelle im Markus-Evangelium beeinflusst, in der die Begegnung Jesu mit einem von Dämonen Besessenen erzählt wird (Mk 5,9). Jesus befiehlt dem Dämon „auszufahren“, „und er fragte ihn: „Was ist dein Name?“ Und er spricht zu ihm: „Legion ist mein Name, denn wir sind viele.“Im YouTube-Video Message to Scientology hieß es: „Wenn ihr eurem Gegenspieler einen anderen Namen geben wollt, dann nennt uns Legion, denn wir sind viele.“

Eine Maske wird zum Symbol der Anonymous-Bewegung

In den nächsten Monaten beteiligten sich immer mehr User aus 4chan, 7chan und den IRC-Chatrooms an den Protesten in der realen Welt. Am 2. Februar 2008 trafen sich etwa 150 von ihnen erstmals in Orlando, Florida, vor der örtlichen Scientology-Filiale. Eine Woche später berichtete die Tampa Bay Tribune bereits, dass 7.000 Menschen in 73 Städten weltweit vor Scientology-Niederlassungen protestiert hatten. Die Demonstranten waren oft Jugendliche oder Leute Anfang zwanzig, die in Gruppen herumstanden oder auf Gartenstühlen zusammensaßen, Schilder mit Internetmemen hochhielten und den Passanten Parolen zuriefen. Einige der Teilnehmer begriffen die Proteste als ironisch, als eine sehr fortgeschrittene Form des Streichespielens; hier stand das Internet selbst gegen eine Organisation des Establishments. Für viele andere war der Protest durchaus ernst gemeint; ihre Transparente lauteten zum Beispiel „$cientology tötet“.

Auf einem mit Anonymous verbundenen YouTube-Account lief regelmäßig ein Nachrichtenmagazin namens AnonyNews. Der Moderator, der über die weltweiten Proteste berichtete, erschien im dunklen Anzug mit roter Krawatte, das Haar mit Gel gestylt, und trug dazu die grinsende weise Guy-Fawkes-Maske, die durch V wie Vendetta, einen dystopischen Kinofilm von 2006, als Verkleidung der rebellischen Hauptfigur bekannt geworden war und jetzt rasch zum Symbol der Anonymous-Bewegung wurde. Das geht auf eine Schlussszene des Films zurück, in der Tausende Aufständische sich die Maske des lose auf dem englischen Revolutionär Guy Fawkes basierenden V aufsetzen, um sich mit ihm solidarisch zu erklären.

Die V-Maske sah man jetzt überall auf den Demonstrationen von Anonymous, die so ihre Gesichter verbargen, um auch in der realen Welt anonym bleiben zu können. Mit der Zeit stand die Maske dann immer mehr für diejenigen von Anonymous, denen es ernsthaft um Revolution und Protest ging. Menschen wie William, die fanden, dass Anonymous dazu da war, um Spaß zu haben und anderen Streiche zu spielen, lehnten sie ab. (Der Medienkonzern Time Warner freute sich 2011 über einen jährlichen Durchschnittsverkauf von 100.000 dieser Masken, während andere Masken von Filmfiguren kaum die Hälfte dieses Umsatzes erzielten.)

Sprach man die Demonstranten an und wollte wissen, wer die Proteste, DDoS-Attacken, Streiche und Internetangriffe eigentlich organisierte, wussten sie nichts Konkretes zu antworten. Die meisten regelmäßigen Teilnehmer sahen die kleinen Gruppen selbst ernannter Organisatoren gar nicht, die im Hintergrund die Fäden zogen.

Doch die Proteste in der realen Welt funktionierten, und als sie angelaufen waren, bat Housh den Kundschafter, der das Inventar der Chans in den verschiedenen Städten und Ländern aufgestellt hatte, in der Annahme, dass er nichts gegen Fleißarbeit hatte, sich in den Chatrooms der Metropolen nach jeweils einer Person umzusehen, die dort so etwas wie ein Organisator war, Aufgaben verteilte und Verantwortung übernahm. „Schau dich mal in Paris, London und New York um“, meinte Housh.

Der Kundschafter verbrachte die nächsten drei Tage damit, in verschiedene Chatrooms hineinzuhorchen, und suchte nach Organisatoren und Teilnehmern, die sich besonders für die Sache begeisterten. Fand er jemanden, begann er einen privaten Chat mit ihm und fragte, ob er das erste Video Message to Scientology gesehen habe. „Einer von den Typen, die das gedreht haben, möchte gern mit dir reden“, lud er ihn ein. Gespannt und wahrscheinlich ein bisschen nervös meldeten sich die Eingeladenen dann bei #marblecake, nachdem sie zugesagt hatten, die Adresse geheim zu halten. „Wir wollen hier keine Kontrolle aufbauen“, erklärte Housh ihnen dann, „sondern Vorschläge erarbeiten, und wir hoffen, dass die Leute ihnen folgen.“ In den folgenden beiden Wochen wuchs #marblecake auf etwa fünfundzwanzig begabte Teilnehmer an, darunter Webdesigner, die in vierundzwanzig Stunden eine Webseite auf die Beine stellen konnten, und erfahrene Organisatoren, die zum Beispiel wussten, wie man bei der Polizei eine Demonstration anmeldet.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%