In letzter Zeit mache ich mir viele Gedanken über den Sinn der digitalen Technologie. Ohne Ziele, die wir mit der sich immer schneller drehenden Entwicklung erreichen wollen, würde technischer Fortschritt zum Selbstzweck werden und damit seine Existenzberechtigung verlieren. Eine angemessene Prämisse, die ich in diesem Artikel beschrieb, ist das Streben nach mehr Zufriedenheit durch den Einsatz moderner Technik. Heute möchte ich einen anderen Aspekt hervorheben, bei dem digitale Innovationen großen Nutzen stiften können: Arbeit.
Derzeit lassen sich zwei entgegengesetzte Prozesse beobachten: Auf der einen Seite führt die fortschreitende Automatisierung sowie die derzeitige Strukturkrise des europäischen, aber auch globalen Finanz- und Wirtschaftssystems zu einer um sich greifenden Massenarbeitslosigkeit. Auf der anderen Seite jedoch sind bei denjenigen, die sich in Lohn und Brot befinden und Karriere machen, verbreitete Überarbeitungs- und Überlastungserscheinungen zu beobachten. Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz gaben zuletzt rund 50 Prozent der Befragten in einer Untersuchung an, Termin- und Leistungsdruck sowie ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge als Belastungsfaktoren zu empfinden. Kein Wunder, wird Erfolg in den meisten Industrienationen noch immer mit langen und intensiven Arbeitstagen gleichgesetzt.
Japans ungesunde Arbeitskultur
Ganz extrem ist diese Sichtweise in Japan, wo ich mich die vergangenen drei Monate aufhielt. Vieles an dem Land hat mich fasziniert. Was nicht dazugehört, ist die äußerst ungesunde Einstellung zur Arbeit. Diese scheinen Japaner nämlich im Prinzip niemals zu pausieren. Mehr als in jeder anderen mir bekannten Kultur wird Arbeit in Fernost mit möglichst überdurchschnittlich vielen Anwesenheitsstunden im Büro gleichgesetzt. Die besten Aufstiegschancen hat, wer vor dem Chef ins Büro kommt und erst nach ihm (in der Regel sind es Männer) verschwindet. Nicht ganz unüblich sind auch freiwillige Wochenendeinsätze und die Nichtnutzung einem zustehender Urlaubstage. Und davon gibt es in Japan deutlich weniger als in den meisten anderen Industrieländern. 2003 standen Japanern durchschnittlich 18 tarifliche Urlaubstage zu – in Deutschland waren es 29.
Die Folgen dieser für Europäer befremdlich wirkenden Arbeitseinstellung: Zu jeder Tages- und Nachtzeit trifft man auf Anzugträger und die ein oder andere Anzugträgerin auf dem Weg vom oder ins Büro. Zu späterer Stunde sind sie nicht selten alkoholisiert, weil sie mit ihren Kollegen den Feierabend in Restaurants und Kneipen verbrachten – nicht immer unbedingt freiwillig, sondern weil es von ihnen erwartet wird. Die kollektivistische Mentalität der Japaner sorgt dafür, dass sie sich mit dieser nicht nachhaltigen Lebensweise trotz der offensichtlichen negativen gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen arrangieren. Niemand möchte aus der Reihe tanzen und die starren traditionellen Normen und Verhaltensweisen in Frage stellen. Den Preis zahlt das Land unter anderem in Form extrem niedriger Geburtenraten – Überarbeitung schadet Leidenschaft und Beziehung – sowie verbreiteter Depressionen, Vereinsamung und einer überdurchschnittlich hohen Zahl von Suiziden, wie aktuell ein sehenswerter, sehr bedrückender Dokumentarfilm schildert.