Kulturwandel Wieso wir weniger arbeiten sollten

Unsere heutige Sichtweise auf Arbeit ist problematisch. Neue Technologien sowie die Krise des Finanz- und Wirtschaftssystems zwingen uns zu weitreichenden Veränderungen.

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Der technische Fortschritt verändert auch die gängigen Konventionen in der Arbeitswelt - Doch viele Chancen bleiben noch ungenutzt Quelle: Fotolia

In letzter Zeit mache ich mir viele Gedanken über den Sinn der digitalen Technologie. Ohne Ziele, die wir mit der sich immer schneller drehenden Entwicklung erreichen wollen, würde technischer Fortschritt zum Selbstzweck werden und damit seine Existenzberechtigung verlieren. Eine angemessene Prämisse, die ich in diesem Artikel beschrieb, ist das Streben nach mehr Zufriedenheit durch den Einsatz moderner Technik. Heute möchte ich einen anderen Aspekt hervorheben, bei dem digitale Innovationen großen Nutzen stiften können: Arbeit.

Derzeit lassen sich zwei entgegengesetzte Prozesse beobachten: Auf der einen Seite führt die fortschreitende Automatisierung sowie die derzeitige Strukturkrise des europäischen, aber auch globalen Finanz- und Wirtschaftssystems zu einer um sich greifenden Massenarbeitslosigkeit. Auf der anderen Seite jedoch sind bei denjenigen, die sich in Lohn und Brot befinden und Karriere machen, verbreitete Überarbeitungs- und Überlastungserscheinungen zu beobachten. Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz gaben zuletzt rund 50 Prozent der Befragten in einer Untersuchung an, Termin- und Leistungsdruck sowie ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge als Belastungsfaktoren zu empfinden. Kein Wunder, wird Erfolg in den meisten Industrienationen noch immer mit langen und intensiven Arbeitstagen gleichgesetzt.

Was die Deutschen bei der Arbeit krank macht
Die Liste prominenter Namen ist lang: Ex-SPD-Chef Matthias Platzeck, Schauspielerin Renée Zellweger, Fernsehkoch Tim Mälzer, Skispringer Sven Hannawald, Profifußballer Sebastian Deisler und auch die Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel. Ihre Gemeinsamkeit: Wegen völliger Erschöpfung zogen sie die Reißleine. Aber es trifft nicht nur Prominente. Psychische Erkrankungen sind der Grund Nummer eins, warum Arbeitnehmer eine Auszeit brauchen - oder sogar in Frührente gehen. Ganze 41 Prozent der Frühverrentungen haben psychische Erkrankungen als Ursache. Diese nahmen laut Krankenkasse DAK-Gesundheit 2012 um vier Prozent zu, rückten erstmals auf Platz zwei aller Krankschreibungen hinter Muskel- und Skeletterkrankungen. Und die Ursachen für diese Krankheiten der Seele liegen oft im Job. Quelle: Fotolia
Die globalisierte Arbeitswelt, die internationalen Verflechtungen der Konzerne, der Konkurrenzdruck: All das zusammen erhöht die Anforderungen an die Beschäftigten. Ihre Arbeitstage werden immer länger, auch an den Wochenenden sitzen sie im Büro oder zu Hause am Schreibtisch, überrollt von einer Lawine von E-Mails. In dieser Tretmühle sind viele dann ausgelaugt, überfordert, verzweifelt, kraftlos. Der Akku ist - salopp gesprochen - leer. Quelle: Fotolia
Die Arbeitsbelastung führe zudem auch immer öfter zu Krankheiten, heißt es weiter. Klagten 2006 noch 43 Prozent über Rückenschmerzen waren es im vergangenen Jahr bereits 47 Prozent. Während 2006 nur 30 Prozent unter stressbedingten Kopfschmerzen litten, waren es 2012 bereits 35 Prozent. Die Anzahl der von nächtlichen Schlafstörungen geplagten Arbeitnehmern stieg von 20 auf 27 Prozent. Quelle: Fotolia
Am häufigsten belastet fühlen sich die Beschäftigten - 58 Prozent - nach dem neuen "Stressreport Deutschland 2012 " der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durch Multitasking, also das Sich-Kümmern-Müssen um mehrere Aufgaben gleichzeitig. Quelle: Fotolia
Jeder zweite der rund 18000 Befragten (52 Prozent) arbeitet unter starkem Termin- und Leistungsdruck. Laut BAuA hat sich der Anteil der von diesen Stressfaktoren betroffenen Beschäftigten auf dem relativ hohen Niveau des vergangenen Jahrzehnts stabilisiert. Jeder vierte (26 Prozent) lässt sogar die nötigen Ruhepausen ausfallen, weil er zu viel zu tun hat oder die Mittagspause schlicht nicht in den Arbeitsablauf passt. Quelle: Fotolia
Immerhin 43 Prozent klagen aber über wachsenden Stress innerhalb der vergangenen zwei Jahre. Außerdem wird fast jeder Zweite (44 Prozent) bei der Arbeit etwa durch Telefonate und E-Mails unterbrochen, was den Stress noch erhöht. Quelle: Fotolia
Insgesamt 64 Prozent der Deutschen arbeiten auch samstags, 38 Prozent an Sonn- und Feiertagen. So kommt rund die Hälfte der Vollzeitbeschäftigten auf mehr als 40 Arbeitsstunden pro Woche, rund ein Sechstel arbeitet sogar mehr als 48 Stunden. Und das ist nicht gesund: Seit Längerem weisen Wissenschaftler auf einen Zusammenhang zwischen langen Arbeitszeiten, psychischer Belastung und gesundheitlichen Beschwerden hin: Je mehr Wochenarbeitsstunden, desto anfälliger. Bei Menschen, die 48 Stunden und mehr pro Woche arbeiten, ist die Gefahr für physische und psychische Erkrankungen am höchsten. Quelle: Fotolia

Japans ungesunde Arbeitskultur

Ganz extrem ist diese Sichtweise in Japan, wo ich mich die vergangenen drei Monate aufhielt. Vieles an dem Land hat mich fasziniert. Was nicht dazugehört, ist die äußerst ungesunde Einstellung zur Arbeit. Diese scheinen Japaner nämlich im Prinzip niemals zu pausieren. Mehr als in jeder anderen mir bekannten Kultur wird Arbeit in Fernost mit möglichst überdurchschnittlich vielen Anwesenheitsstunden im Büro gleichgesetzt. Die besten Aufstiegschancen hat, wer vor dem Chef ins Büro kommt und erst nach ihm (in der Regel sind es Männer) verschwindet. Nicht ganz unüblich sind auch freiwillige Wochenendeinsätze und die Nichtnutzung einem zustehender Urlaubstage. Und davon gibt es in Japan deutlich weniger als in den meisten anderen Industrieländern. 2003 standen Japanern durchschnittlich 18 tarifliche Urlaubstage zu – in Deutschland waren es 29.

Die Folgen dieser für Europäer befremdlich wirkenden Arbeitseinstellung: Zu jeder Tages- und Nachtzeit trifft man auf Anzugträger und die ein oder andere Anzugträgerin auf dem Weg vom oder ins Büro. Zu späterer Stunde sind sie nicht selten alkoholisiert, weil sie mit ihren Kollegen den Feierabend in Restaurants und Kneipen verbrachten – nicht immer unbedingt freiwillig, sondern weil es von ihnen erwartet wird. Die kollektivistische Mentalität der Japaner sorgt dafür, dass sie sich mit dieser nicht nachhaltigen Lebensweise trotz der offensichtlichen negativen gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen arrangieren. Niemand möchte aus der Reihe tanzen und die starren traditionellen Normen und Verhaltensweisen in Frage stellen. Den Preis zahlt das Land unter anderem in Form extrem niedriger Geburtenraten – Überarbeitung schadet Leidenschaft und Beziehung – sowie verbreiteter Depressionen, Vereinsamung und einer überdurchschnittlich hohen Zahl von Suiziden, wie aktuell ein sehenswerter, sehr bedrückender Dokumentarfilm schildert.

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