




Vor ein paar Monaten war Thomas Piketty ein relativ unbekannter französischer Wirtschaftswissenschaftler. Heute ist sein Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" ein weltweiter Bestseller. Auf fast 1000 Seiten erklärt der Ökonom, warum der Kapitalismus seiner Meinung nach der Demokratie schadet. In Kurzform: Piketty glaubt, dass der Markt zwangsläufig Ungleichheit erzeugt, einige wenige ihren leistungslosen Reichtum permanent steigern, während die Mehrheit mit einem schrumpfenden Teil an Arbeitseinkommen abgespeist wird.
Man muss Piketty nicht zustimmen. Aber Fakt ist, dass der Franzose mit seinem Werk einen gesellschaftlichen Nerv getroffen hat - das Buch steht seit Wochen auf den üblichen Bestsellerlisten. Doch da stellt sich die Frage: Lesen die Käufer das Buch auch wirklich?
Eher nein - behauptet jetzt zumindest der amerikanische Mathematiker Jordan Ellenberg von der Universität von Wisconsin. Und in einem Gastbeitrag für das "Wall Street Journal" erläuterte er auch, wie er zu dieser Auffassung gelangte.





Für seine Analyse nutzte Ellenberg eine Amazon-Software namens "Popular Highlights". Zur Erklärung: Amazon verrät, welche fünf Passagen die Leser in ihren E-Books am häufigsten markieren. Ellenberg vermutete nun: Wenn jeder Leser wirklich das komplette Buch liest, dann müssten diese Passagen quer durch das ganze Buch verteilt sein. Falls nein, wären die meisten markierten Passagen eher am Beginn des Buchs.
Ellenberg analysierte nun, auf welchen Seiten die Leser Anmerkungen hinterlassen hatten und wie viele Seiten jedes Buch insgesamt hatte. Daraus ermittelte der Mathematiker den so genannten "Hawking-Index", benannt nach dem britischen Physiker Stephen Hawking. Der Grund: Dessen Buch "Eine kurze Geschichte der Zeit" gilt ebenfalls als Bestseller, den aber kaum jemand zu Ende gelesen hat. Je höher der Wert, desto ausführlicher wird Ellenberg zufolge ein Buch gelesen.
Der Mathematiker wählte nun nach Gutdünken einige Bestseller aus, sowohl Sachbücher als auch Romane. Am besten schnitt in Ellenbergs Analyse der Roman "The Goldfinch" der US-Autorin Donna Tartt ab - mit einem Hawking-Index von 98,5 Prozent. "Alle fünf meist markierten Passagen stammen aus den letzten 20 Seiten", so Ellenberg. Auf Platz zwei landete "Catching Fire" von Suzanne Collins, in Deutschland besser bekannt unter dem Titel "Die Tribute von Panem", mit einem Wert von 43,4 Prozent. Der dritte Platz ging an "The Great Gatsby" von F. Scott Fitzgerald.
Welches Buch am schlechtesten abschnitt? Richtig geraten: "Das Kapital im 21. Jahrhundert" von Thomas Piketty - mit einem Wert von 2,4 Prozent. Die letzte der fünf beliebtesten Passagen stammte von Seite 26. Pikettys Buch mag sich gut verkaufen - aber das heißt noch lange nicht, dass es auch tatsächlich gelesen wird.