




Sie ist schwarz, hat im Durchschnitt 30 Euro gekostet und ist des Deutschen liebstes Utensil: die Geldbörse, wie Statistiker sie zusammenstellen würden. Darin 5,90 Euro in Münzen, 100 Euro in Scheinen, vier Plastikkarten – je eine von Hausbank, Krankenversicherung, Bonusprogramm Payback und einem Kreditkartenanbieter.
Genau dieser Geldbörse geht es jetzt ans Leder: 45 Prozent der Deutschen können sich vorstellen, ganz darauf zu verzichten, ermittelte der Marktforscher TNS Infratest. Statt mit Bargeld oder Karte wollen sie lieber mit ihrem Mobiltelefon bezahlen.
Dass die Vision der Handybrieftasche – obwohl nicht neu – bisher trotzdem nicht Realität wurde, lag an einem dreifachen Mangel im System: Es fehlten geeignete Kassensysteme in den Läden, passende Handys bei den Verbrauchern und eine gemeinsame Strategie von Handel, Banken und Mobilfunkanbietern.

Das aber ändert sich nun: Jedes dritte Mobiltelefon, das dieses Jahr auf den Markt kommt, ist bereits mit einem sogenannten NFC-Funkchip ausgestattet, mit dem die Handys Kontakt zu modernen Supermarktkassen aufnehmen. Gleichzeitig ist die Zahl dieser Kassenterminals weltweit schon auf einige Millionen gestiegen, in Deutschland gibt es sie etwa in Aral-Tankstellen und McDonald’s-Filialen. Auch strategisch geht es voran: Die großen Mobilfunker Telefónica, Vodafone und die Deutsche Telekom bringen nach Jahren des Wartens jetzt Smartphone-Geldbörsen und arbeiten mit den Kreditkartenriesen Visa und MasterCard zusammen.
Dazu kommen neue Anbieter aus anderen Branchen, die den Markt entwickeln; darunter der vom Handelskonzern Otto gegründete Bezahldienst Yapital sowie Startups wie Cashcloud oder Paij. Und sogar die lange zögernden Handelskonzerne haben sich entschieden, Handyzahlungen zu akzeptieren: Netto und Edeka haben schon eigene Apps eingeführt, Anfang November zieht Rewe nach und schließt sich der Bezahlplattform Yapital an.
Börse als smarter Assistent
„Der Markt für das Zahlen per Smartphone kommt in Bewegung“, sagt Ercan Kilic, Leiter der Arbeitsgruppe Mobile Payment beim Handelsdienstleister GS 1. Schon nächstes Jahr, sagt Kilic, werde die Zahl der Geschäfte, die Handyzahlungen akzeptieren, „erheblich zunehmen“.
Für die Technik, die in Japan und selbst in Kenia schon Millionen Verbraucher nutzen, gibt es gute Gründe: Ersetzt das Handy Geldscheine und Kreditkarten, kann nicht nur die schwere Lederbörse daheim bleiben; auch Schlangestehen am Geldautomaten erübrigt sich, weil Euros nur noch elektronisch den Besitzer wechseln. Obendrein haben Taschendiebe keine Chance mehr, an die begehrten Scheine zu kommen, weil der Safe im Handy per Passwort geschützt ist. Geht das Handy verloren, kann der Besitzer via Internet alle Bezahlfunktionen sperren oder entfernen.
Mehr Komfort und riesiges Geschäft





Am Ende steht die digitale Brieftasche, englisch eWallet genannt, die auch Rabattmarken und Treuepunkteheftchen, Flugtickets und Zugfahrkarten, Hotelzimmerschlüssel und Reisepass integriert. Stück für Stück wandelt sich die Geldbörse so zum smarten Assistenten: Gefüttert mit Informationen aus dem Internet, weist er seinen Besitzer auf personalisierte Sonderangebote hin, hat dank GPS-Peilung bei Ankunft in einer neuen Stadt die Hoteldaten parat oder löst in der Straßenbahn von selbst das preiswerteste Ticket.
Was den Konsumenten mehr Komfort verheißt, verspricht den Anbietern ein riesiges Geschäft: 721 Milliarden Dollar werden im Jahr 2017 via Handy fließen, glauben die Marktforscher von Gartner. Wer diese Zahlungsflüsse abwickelt, kann dem Handel bei jedem Einkauf bis zu drei Prozent Gebühr berechnen.
Drei Techniken drängen in Telefone und Shoppingmeilen: Yapital, Netto und Edeka nutzen sogenannte QR-Codes – Quadrate aus Pixeln, die der Nutzer per Handy an der Kasse abfotografiert. Das klappt mit allen modernen Handys, hat aber einen Nachteil: Ist der Akku leer oder das Netz schwach, bleibt die Kasse zu. Dafür sind die Kosten der Technik gering. Den meisten Kassengeräten reicht ein Software-Update, um die Pixel-Codes anzuzeigen.
Mehr Aufwand verursacht die Methode, auf die auch die großen Mobilfunker setzen – der Near Field Communication genannte Kurzstreckenfunk, kurz NFC: Handy und Kasse brauchen dafür einen fingernagelgroßen Funkchip. Nähert sich das Handy auf wenige Millimeter der Kasse, tauschen die Chips die Kontodaten aus.
Eine dritte Technik hat vor wenigen Wochen der US-Zahldienstleister Paypal vorgestellt: Bluetooth-Funksender von der Größe eines USB-Sticks, auch Beacons genannt, die mit dem Handy über Meter hinweg Kontakt aufnehmen. Betritt ein registrierter Kunde eine Boutique, erscheint auf deren Kassendisplay sein Name und sein Passfoto. Beim Hinausgehen ruft der Käufer dem Kassierer bloß noch zu, was er mitnimmt. Der Verkäufer trägt die Waren in der Kasse ein, aktiviert den Kauf – und das neue Outfit ist bezahlt.
Ziel anpeilen, scannen, zahlen
Wie die neue Bezahlwelt schon bald bundesweit aussehen soll, zeigt der Einkauf an einem Montagabend im Oktober auf der Düsseldorfer Einkaufsstraße Kö. „Sie möchten mit Yapital bezahlen?“, fragt die Verkäuferin beim Schuhhändler Görtz, als der Kunde an der Kasse sein Smartphone vorzeigt. Schon am Samstag davor hatten zwei Käufer ihre Rechnung mit Ottos neuem Handydienst beglichen.
Das erinnert an Tontaubenschießen. Ziel anfordern – die Verkäuferin schiebt ein Display über den Kassentresen. Anvisieren: Der Kunde peilt den QR-Code mit der Handykamera an. Und Schuss: Der Kunde knipst den Code. Anschließend erscheint der Kaufpreis auf dem Handydisplay. Kurz auf Bestätigen gedrückt, schon sind 6,50 Euro für eine Tube Schuhcreme bezahlt.
Neue Werbeformen





Um den Dienst zu nutzen, melden sich Verbraucher bei Yapital an, laden eine App aufs Smartphone und buchen per Fingertipp Geld vom Bankkonto ab. Yapital-Chef Nils Winkler nennt das „einen Geldautomaten für die Tasche“. Neben Görtz akzeptieren auch die Online-Shops von Sport Scheck, H.I.S.-Jeans und der Outdoormodehändler Arqueonautas die neue Form der Handyzahlung. Rewe folgt im November. „Zeitnah“, sagt Yapital-Manager Winkler, „werden weitere große Dienstleister und Einzelhändler dazukommen.“
Auf rasch wachsende Partnernetzwerke setzen auch die drei großen Mobilfunker, deren Handybrieftaschen allerdings auf NFC-Technik basieren. Telefónica hat mit seiner O2 Wallet und dem Bezahldienst mpass bereits Angebote im Markt. Die Deutsche Telekom, die in Polen schon eine Wallet anbietet, will mit der Handygeldtasche nun in Deutschland starten. Und auch Vodafone rüstet fürs Mobile Payment.
In der Konzernkantine in Düsseldorf etwa können 5.000 Mitarbeiter bereits Rehrücken und Birne Helene bezahlen, indem sie ihr Handy kurz an ein NFC-Lesegerät an der Kasse halten. Im ersten Quartal 2014 will der Mobilfunker dann allen seinen Kunden eine virtuelle Brieftasche als App zum Download anbieten. Und bald darauf sollen sich auch Kredit- und EC-Karten in die eWallet integrieren lassen. „Wir verhandeln schon mit einer Handvoll Banken“, sagt Jochen Bornemann, der bei Vodafone Deutschland für Bezahldienste zuständig ist. „Stück für Stück wird sich die Brieftasche mit weiteren Diensten füllen.“
Parallel dazu entwickelt sich das Bezahlhandy zum Werkzeug für Rabattjäger – denn das Telefon speichert auch Kundenkarten und Couponhefte.
Was die überquellende Brieftasche entlastet, ermöglicht Herstellern, Händlern und Dienstleistern neue Werbeformen – etwa ortsbezogene, personalisierte Gutscheine, die den Geschmack ihrer Adressaten genauer treffen, als es Prospekte oder Plakate je vermochten.
Solche Angebote haben etwa das Kölner Gutschein-Startup Coupies und das Münchner Bonussystem 10stamps. Keiner aber setzt das virtuelle Gutscheinheft so konsequent um wie das Luxemburger Startup Cashcloud. Der Bezahldienstleister hat eine App entwickelt, deren Nutzer sich gratis und binnen Sekundenbruchteilen Geld überweisen können. Cashcloud weiß aber demnächst nicht nur, mit wem ein Nutzer befreundet ist, sondern auch, was er eingekauft hat. Denn ab November will das Startup auch NFC-Sticker verschicken, die man auf sein Handy kleben kann, um damit an Kassen mit modernen Visa- und Mastercard-Terminals zu zahlen.
Telefon öffnet Mietwagen





Künftig können Unternehmen in der App gegen Gebühr Gutscheine platzieren, die auf das Kaufverhalten der Handybesitzer zugeschnitten sind. „Wir wollen nicht an der Geldtransaktion verdienen, sondern an der Werbung“, sagt Geschäftsführer Olaf Taupitz. Eine Frittenbude könnte etwa in der Cashcloud-App Gutscheine an Bewohner einer bestimmten Stadt verteilen, die häufig Fast Food essen.
Sogar eine eigene Währung will Cashcloud etablieren, sogenannte Cashcredits. Die bekommt, wer Freunde für die Plattform wirbt oder Gutscheine einlöst. Später lassen sich die Credits für Einkäufe nutzen. Rabatte gegen Daten, das ist das Geschäft.
Aber die Handygeldbörse soll künftig nicht nur im Supermarkt funktionieren. So will etwa Vodafone seinen Mitarbeitern noch ab November ein elektronisches Jobticket des örtlichen Nahverkehrsunternehmens, der Rheinbahn, aufs Handy spielen. Kommt der Kontrolleur, müssen die Mobilfunker nur zum Telefon greifen, statt die Plastikkarte herauszufummeln.
Im Laufe des kommenden Jahres plant der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen, das Handy als universelle Fahrkarte in ganz Deutschland anzubieten. Später sollen sich sogar spontane Fahrten abrechnen lassen: Statt ein Ticket zu kaufen, hält der Kunde das NFC-Handy zweimal kurz an ein Lesegerät, das in Bussen und Bahnen befestigt ist – einmal beim Einsteigen, einmal beim Aussteigen. Die App berechnet den günstigsten Fahrpreis.
Digitale Welt
Das Wiesbadener Zahldienst-Startup Paij will derweil 15 000 Taxis so aufrüsten, dass die Fahrgäste bargeldlos per Handy-App bezahlen können. Im Stockholmer Hotel der Clarion-Kette öffnen NFC-Handys schon Zimmertüren, und der Autozulieferer Continental arbeitet an Autoschlössern, die sich per Smartphone entriegeln lassen. Das könnte Car-Sharing-Dienste wie Car2Go oder DriveNow noch komfortabler machen.
Bis wann all die Funktionen im Smartphone verschmolzen sind, ist noch offen. Genauso wie die Frage, ob sich eine Technik durchsetzt oder mehrere nebeneinander existieren. Eines aber ist klar: Ledern ist an der Geldbörse der Zukunft allenfalls noch die Schutzhülle fürs Handy.