Regieren nach Zahlen Leben wir bald als Datenprimaten im Großgehege?

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Der Mensch wird nicht mehr beherrscht, sondern berechnet

Der chinesische Milliardär und Alibaba-Gründer Jack Ma ist von der Idee beseelt, dass man mit Big-Data-Analysen die Planungsfehler der Vergangenheit korrigieren und eine Planwirtschaft 2.0 ins Werk setzen könne. Der Zugang zu diversen Datensätzen erlaube es, die „unsichtbare Hand“ des Markts zu finden, ist Ma überzeugt. „Im Zeitalter der Daten ist es so, als hätten wir ein Röntgengerät und eine Computertomografie-Maschine für die Weltwirtschaft.“ Alibaba könnte mit den Daten seiner 500 Millionen Kunden den Prozess der Preisbildung simulieren. Wer interessiert sich für welches Produkt? Wer plant die Anschaffung eines Autos? In welcher Region steigt die Nachfrage nach Immobilien? Mit mathematischen Modellen ließe sich die Angebots- und Nachfragemenge analog zum Markt im Computer berechnen und eine Art künstlichet Preisbildungsmechanismus entwickeln.

Es gab in der Wirtschaftsgeschichte bereits einige Experimente mit der computergestützten Planung von Ökonomien wie das 1971 von Stafford Beer in Chile unter Präsident Salvador Allende eingeführte Project Cybersyn, bei dem die Fabriken des Landes mit einem Großrechner im Wirtschaftsministerium verbunden wurden. Das Experiment wurde nach dem Militärputsch 1973 und dem Siegeszug der Chicago Boys jäh beendet. Die Explosion der Daten und Fortschritte der KI beflügeln die Träume einer Kommandowirtschaft 2.0 jedoch neu. Das Interessante an der Entwicklung ist nicht, dass Planwirtschaftsmodelle aus der sozialistischen Mottenkiste hervorgeholt werden, sondern dass mit der totalen Vorhersagbarkeit und Berechenbarkeit von Individuen und Gruppen eine neue politische Steuerungsform möglich wird, die mit autoritären Vorstellungen verschaltet werden kann.

Der chinesische Suchmaschinenriese Baidu hat einen Algorithmus entwickelt, der anhand von Sucheingaben bis zu zwei Stunden im Voraus vorhersagen kann, wo sich eine Menschenansammlung („kritische Masse“) bilden wird – eine Art algorithmische Crowd-Kontrolle. Wo gärt und wo rumort es? Wo bahnt sich eine Protestkundgebung an?

Die Sozialingenieure denken Politik von der Kybernetik her: Es geht darum, Störungen zu vermeiden und das System im Gleichgewicht zu halten. Der Mensch wird nicht mehr beherrscht, sondern berechnet und – das ist die dialektische Pointe – in seiner Berechenbarkeit total beherrschbar. Dabei scheint es, als würden planmäßig agierende Staaten wie China von der Digitalisierung überproportional profitieren, weil ihre Institutionen Daten viel schneller verarbeiten können als die demokratischer Systeme und weil die autoritative Wertezuteilung (David Easton) viel effizienter funktioniert. Man könnte daher argumentieren, dass die binäre Grundstruktur der Digitaltechnik die Problemlösungskapazität und Codes von Autokratien tendenziell stabilisiert – was in bemerkenswertem Widerspruch zur Systemtheorie steht, die ja davon ausgeht, dass sich autoritäre Systeme nicht an ihre systemische Umwelt anpassen können und irgendwann kollabieren. Es ist ja viel leichter, eine Gesellschaft über mathematische Ordnungsrelationen (etwa durch Scores) zu normen als durch Repressionen.

Aber auch unter dem Datenregime der GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple) findet eine Vermassung, Konfektionierung und Objektivierung von Subjekten statt, die wir als solche nicht wahrnehmen, weil wir von den digitalen Dienern ständig als Individuum angesprochen werden. Das aber ist bloß ein Simulakrum, eine Finte politischer Simulationen, in denen wir ohnehin schon vorab berechnet werden und alles determiniert ist. Die Datenuniform von der Stange, die man im Netz übergestülpt bekommt, ist letztlich überall gleich – wie auch die Macht- und Herrschaftstechnik der datifizierten Steuerung.

Soeben erschienen: „Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis“, Verlag C.H. Beck, 16,95 Euro. Quelle: Presse

Die Frage ist, ob sich der Wettbewerb der politischen und wirtschaftlichen Systeme – Demokratie versus Autokratie, Planwirtschaft versus Marktwirtschaft – dereinst in den Daten auflöst. Ob man als Datenprimat in einem „behavioristischen Großgehege“ (Harald Welzer) oder als total überwachter Bürger in einem Datengefängnis in China lebt, könnte am Endpunkt dieser Systemkonvergenz kaum noch einen Unterschied machen. Es bleibt zu hoffen, dass die Apple-Werbung Fiktion bleibt – und Freiheit auch in einer Welt der Daten überlebt.

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