Fortschritt und Zweifel sind Geschwister im Geiste. Den einen gibt es nie ohne den anderen. Zum Glück für die Menschheit. Denn zweifelsfreier Fortschritt gleicht einer Achterbahn in die Zukunft, bei der die Passagiere sich ungesichert in die Tiefe stürzen. Finaler Absturz inbegriffen.
Bei allen Kopierfehlern, die sich in der Evolutionsgeschichte der Menschen eingeschlichen haben, biologische und sozial gelernte, haben wir es doch ganz schön weit gebracht. Wir sind noch da. Das ist nach 200.000 Jahren nicht selbstverständlich, eine Leistung in Selbstbewahrung, die wir auch Humanismus nennen. Ob der ausreicht, die immer wieder aufflackernden skrupellosen Zünglein an der Waage der Balance zwischen Menschlichem und Möglichem im zivilisatorischen Zaum zu halten, darüber wird seit Menschengedenken kräftig gestritten.
Vor nicht einmal einem Monat hat der chinesische Forscher He Jiankui die genveränderten Zwillingsmädchen Lulu und Nana der Weltöffentlichkeit präsentiert. He hat die Genschere Crispr/Cas9 verwendet, um das Genom der beiden Retortenbabys so zu verändern, dass sie immun werden gegen das HIV-Virus, den Erreger der Aids-Erkrankung. Hes Auftritt auf einer Konferenz in Hongkong war sicher ein kommunikativer Coup, der dem bislang unbekannten Forscher plötzlich Weltaufmerksamkeit brachte. Ob stimmt, was er vorgibt erreicht zu haben, ist immer noch umstritten. Und doch lässt sich feststellen: Hier handelt es sich um Fortschritt, der Durchbruch und Dammbruch zugleich ist.
Mit Crispr/Cas9 lässt sich in einem recht simplen Eingriff die Keimbahn des Menschen manipulieren. Das betrifft nicht nur die Person, an welcher der Eingriff vorgenommen wird, sondern alle, die ihr genetisch folgen. Die Veränderungen der Keimzelle werden nämlich genetisch weitervererbt. Und so treten wir ein in eine neue Zeit, in der die Menschen die Fortschreibung ihrer Evolutionsgeschichte selbst in die Hand nehmen. Crispr/Cas9 ist das Medium, mit dem die Menschheit sich neu über sich selbst verständigt und die Geschichte ihrer Zukunft schon in der Gegenwart schreibt. Das ist der Einstieg in die grundstürzende Fortschrittsfahrt auf der Achterbahn der Biotechnologien, ohne Gurt und Airbag.
Am Ende des Jahrzehnts stehen wir damit vor einer Aufgabe, die niemand bislang so recht ausbuchstabiert hat. Es gilt, Regeln zu finden für einen künftigen Menschenpark, in dem nicht nur Krankheiten geheilt, sondern auch Exemplare der Spezies Menschheit nach Belieben designt werden können. Vor knapp 20 Jahren hat der Philosoph Peter Sloterdijk diese Aussichten in einer Rede provokativ hergeleitet. Im Rückgriff auf die deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger verlangte Sloterdijk einen „Codex der Anthropotechniken“ zu formulieren, eine Sammlung von Normen, die Menschen sich im Umgang mit sich selbst und ihren Nachkommen geben. Sloterdijk wurde damals als reaktionär und als Befürworter einer Eugenik kritisiert. Er hat letztlich nur auf die Frage verwiesen, die sich nun ganz praktisch stellt: Was geschieht mit der Menschheit und ihrem humanistischen Betriebssystem, wenn wir den reproduktiven, evolutionären Zufall aus der künftigen Evolutionsgeschichte herausrechnen können? Und wer darf das für wen tun?
Mit diesem Jahreswechsel beginnt eine neue Zeit des Machbaren. Sie kann für Heilung, Hilfe und herausragende Innovationen stehen. Oder für den Horror der Ignoranz gegenüber einer der wesentlichen ethischen Fragen unserer Zeit: Wer darf bestimmen, wann das Individuum keine Wahl mehr hat, weil andere sie schon getroffen haben? Wollen wir den Humanismus als Code für unser Zukunftsprogramm erhalten, kann das Motto für die neue Zeit nur lauten: Im Zweifel für den Zweifel und gegen den Zwang. Mit dieser Kolumne verabschiede ich mich hier von Ihnen, werde aber über unsere Plattform „ada“ weiter der Zukunft den Puls fühlen. Frohe Weihnachten!