Selfies Was der Selfie-Wahn über uns aussagt

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Die Ego-Gesellschaft

Zu einem ähnlichen Befund kommt auch die deutsche Autorin Ariadne von Schirach in ihrem aktuellen Buch „Du sollst nicht funktionieren“, das sich mit dem Perfektionismuswahn der modernen Gesellschaft beschäftigt. Längst müsse man sich nicht nur mit den echten Körpern auf der Straße und im Fitnessstudio messen, sondern auch mit der ins Unendliche angewachsenen Zahl an virtuellen Vergleichskörpern – vor allem den digital Retuschierten. Das baue Druck auf und führe dazu, dass sich das Ich eines Menschen in Arbeit verwandelt.

Doch es sind nicht nur die Dagi Bees oder Kim Kardashians dieser Welt, die Instagram, Pinterest, Snapchat und Facebook mit Fotos überschwemmen. Das Bedürfnis zur Selbstdarstellung ist längst allgegenwärtig. Wächst da eine Generation von Egomanen heran, die ihren Urlaub, ihr Baby oder ihr Leberwurstbrot lieber mit den virtuellen als den realen Freunden teilt?

Im vergangenen Jahr traf sich im vorarlbergischen Lech eine Gruppe von Intellektuellen, um über die Auswirkungen der Selfie-Kultur zu sprechen. Die Philosophen und Soziologen waren sich schnell einig: Die Ich-Modellierung im Selbstporträt führe zu einer narzisstischen Gesellschaft, in der Familie und reale Freunde an Bedeutung verlieren.

Konrad Paul Liessmann ist der Initiator des jährlich stattfindenden philosophischen Diskurses. Er zitiert den amerikanischen Historiker Christopher Lasch, der vor dem Zeitalter des Narzissmus warnte. Vor allem die immer handlicher werdenden Fotoapparate führen zu einer vermehrten „Selbstüberwachung“, durch die nicht nur eine „unaufhörliche Selbstprüfung“ ermöglicht, sondern auch das eigene Selbstgefühl vom „Konsum von Bildern dieses Selbst“ abhängig wird. Die Aussagen stammen aus dem Jahr 1979.

Bestätigt werden sie von zahlreichen aktuellen Studien. Wissenschaftler der Ohio-State-Universität beschäftigten sich kürzlich mit den Persönlichkeitsmerkmalen von Männern, die besonders viele Selfies posteten. Dafür befragten sie 800 Probanden zwischen 18 und 40 Jahren. Neben dem Surfverhalten und verschiedenen Eigenschaften wollten die Forscher auch wissen, ob sie ihre Selfies vor der Veröffentlichung bearbeiten – und ob es einen Zusammenhang zur Persönlichkeitsstruktur gab. Und siehe da: Jene Männer, die häufig Selfies von sich posteten, waren deutlich narzisstischer. Besonders hoch waren die Werte bei denjenigen, die ihre Fotos vorher noch einer gründlichen Bearbeitung unterzogen, um unbedingt gut auszusehen. Ob das Ergebnis auch für Frauen gilt, untersuchen die Wissenschaftler aktuell in einer Folgestudie. Erste Analysen weisen aber darauf hin.

Die Soziologin Bernadette Kneidinger-Müller glaubt hingegen nicht an eine Welt voll narzisstischer Egomanen. „Dieser Theorie widerspricht zum einen der Fakt, dass auf vielen Selfies mehrere Menschen und nicht nur der Einzelne zu sehen ist“, sagt sie. „Zum anderen haben die Menschen schon immer Selbstporträts gemacht, das ist kein neues Phänomen.“ Dank Smartphones und Frontkamera sei es nur deutlich einfacher geworden – und dadurch auch weiter verbreitet.

Von diesen Möglichkeiten konnte Anastasia Nikolajewna Romanowa 1914 nur träumen. Die damals 13-jährige Zarentochter hockt auf einem Stuhl, mit beiden Händen umklammert sie eine sperrige Kodak Brownie, die erste Kamera für den Massengebrauch. Ernst schaut Romanowa in den Spiegel, den Mund vor Anspannung leicht geöffnet. Aufgrund der langen Belichtungszeit musste sie minutenlang still verharren. Dann war es fertig: eines der ersten Selfies der Welt.

Ganz makellos ist es nicht, auf der linken Seite hat sich eine Unschärfe in Forms eines weißen Schattens hineingeschlichen. Rein optisch hat es daher wenig mit dem einer Dagi Bee zu tun. Und doch ist es der bildliche Beweis dafür, dass es das Bedürfnis nach Selbstdarstellung schon lange gibt – und nicht erst seit Erfindung der Frontkamera.

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