
Die Idee kam Philipp Schmitt, als er aus dem Fenster schaute und sich mal wieder wunderte. Von seinem Studentenzimmer aus blickt der 22-Jährige auf das Heilig-Kreuz-Münster von Schwäbisch Gmünd. Die gotische Kirche, errichtet ab 1320, ist eine beliebte Touristenattraktion. Jeden Tag versammeln sich hier Dutzende von Besuchern, zücken ihr Smartphone und schießen ein Foto. Aber nicht von der Eingangspforte, dem Glockenturm oder den Bleiglasfenstern – sondern von sich selbst. Die Kirche erkennt man auf vielen Fotos nur unscharf im Hintergrund.
Es scheint fast so, als würden die Menschen das Bauwerk gar nicht mehr mit eigenen Augen ansehen, sondern lediglich durch die Kamera ihrer Geräte. Immer darauf erpicht, den Moment zwar möglichst perfekt für die Ewigkeit festzuhalten – ihn aber gleichzeitig ungelebt verstreichen zu lassen.





Je länger Schmitt, Student der Interaktionsgestaltung, diese Szenen beobachtete, desto eher drängte sich ihm eine Frage auf: Was macht das ständige Inszenieren, Fotografieren und Teilen mit uns? Leben wir tatsächlich nur noch für das Foto, nicht mehr für den Moment? Und was wäre, wenn das nicht mehr möglich ist?
Daraufhin entwickelte Schmitt im Rahmen einer Semesterarbeit eine Apparatur, die er Camera Restricta nannte. Dahinter verbirgt sich eine Kamera, die dem Besitzer verbietet, Fotos von allzu abgedroschenen Motiven zu schießen. Sobald sich das Objektiv auf Eiffelturm, Empire State Building, Brandenburger Tor oder das Schwäbisch Gmünder Münster richtet, überprüft das Gerät per Geodaten, wie viele Bilder es von dem jeweiligen Ort bereits auf den Fotoplattformen Flickr und Panoramio gibt. Sind es mehr als 35, dann hat man Pech gehabt. Der Auslöser blockt ab.
Schnell geisterte die Erfindung durchs Netz: „Zensur“, schrien die einen. „Big Brother is watching you“, die anderen.
Doch darum geht es gar nicht. Die Kamera ist kein echtes Produkt, das es bald bei Media Markt oder Saturn zu kaufen gibt – obwohl das rein technisch möglich wäre, denn mit der entsprechenden Software ließe sich jedes Smartphone in eine Camera Restricta umfunktionieren. Philipp Schmitt geht es vielmehr darum, einen Denkanstoß zur heutigen Fotokultur zu liefern.
In einer US-Umfrage gaben 58 Prozent der Befragten an, schon einmal einen schönen Moment verpasst zu haben, weil sie auf der Suche nach dem perfekten Motiv für die sozialen Netzwerke wie Facebook und Instagram oder ihr eigenes digitales Fotoarchiv waren. Tendenz steigend. Mittlerweile überschwemmen täglich etwa 1,8 Milliarden neue Bilder das Internet, 350 Millionen davon laden alleine die Mitglieder bei Facebook hoch.
Eine Umfrage der österreichischen Forschungseinrichtung Jugendkultur kam zu dem Ergebnis, dass knapp 60 Prozent der 14- bis 29-Jährigen Fotos von sich mit der Handykamera schießen und sie ins Netz stellen. „Selfies sind längst zu einer Form der Kommunikation geworden“, sagt die Soziologin Bernadette Kneidinger-Müller, die an der Universität Bamberg zu dem Thema forscht.
Selfies mit Flüchtlingen
Früher schickten die Menschen Postkarten aus dem Urlaub nach Hause, darauf verschiedene Motive. Strände, Berge, Sonnenuntergänge. Heute verschicken sie ein Foto, darauf – vor allem sie selbst. Nur der Hintergrund wechselt, je nach Alter, Situation und Gemütszustand. Selfies sind eine beliebte Ausdrucksform, von pubertierenden Teenagern auf der Suche nach identitätsstiftenden Momenten ebenso wie von Politikern auf der Suche nach Volksnähe.