Als sich Jürgen Heidemanns neulich sozusagen Auge in Auge einem Roboter gegenübersah, da war dem Industriemechaniker erst einmal ziemlich mulmig zumute. Der 58-Jährige war an die maschinellen Helfer in seiner Arbeitshalle nur aus sicherer Entfernung gewöhnt: Bisher standen sie stets hinter Gittern, damit sie ja niemanden mit ihren abrupten Bewegungen verletzen.
Doch nun wuseln um ihn in der Werkshalle von SEW-Eurodrive, einem Unternehmen, das sich mit Antriebstechnik beschäftigt, kleine blinkende Gefährte herum, die aussehen wie ein aufgemotztes Skateboard. Sie fahren brav Wellen und Zahnräder zu seiner Montagestation. Carmen, ein anderer Roboter – oder genauer gesagt, ein Roboterarm –, hebt das schwere Getriebegehäuse mit ihren Zangen und hält es für ihn in Position, wenn Heidemann es mit dem Elektromotor verschrauben will. Und Heidemanns Unsicherheit ist verflogen.
Denn die neuartigen Gehilfen sind dank künstlicher Intelligenz (KI) unter der Maschinenhaube so programmiert, dass sie sich nach seinem Tempo und seinen Bedürfnissen richten. Und sie lernen stets dazu, wie sich die Montage im Zusammenklang mit ihm, dem Menschen, optimieren lässt. Sein Fazit: Alles sei jetzt „genau da, wo ich es brauche“.
Schneller schlau: So lernen Maschinen das Denken
Mit Kameras, Mikrofonen und Sensoren erkunden die Maschinen ihre Umwelt. Sie speichern Bilder, Töne, Sprache, Lichtverhältnisse, Wetterbedingungen, erkennen Menschen und hören Anweisungen. Alles Voraussetzungen, um etwa ein Auto autonom zu steuern.
Neuronale Netze, eine Art Nachbau des menschlichen Gehirns, analysieren und bewerten die Informationen. Sie greifen dabei auf einen internen Wissensspeicher zurück, der Milliarden Daten enthält, etwa über Personen, Orte, Produkte, und der immer weiter aufgefüllt wird. Die Software ist darauf trainiert, selbstständig Muster und Zusammenhänge bis hin zu subtilsten Merkmalen zu erkennen und so der Welt um sie herum einen Sinn zuzuordnen. Der Autopilot eines selbstfahrenden Autos würde aus dem Auftauchen lauter gelber Streifen und orangefarbener Hütchen zum Beispiel schließen, dass der Wagen sich einer Baustelle nähert.
Ist das System zu einer abschließenden Bewertung gekommen, leitet es daraus Handlungen, Entscheidungen und Empfehlungen ab – es bremst etwa das Auto ab. Beim sogenannten Deep Learning, der fortschrittlichsten Anwendung künstlicher Intelligenz, fließen die Erfahrungen aus den eigenen Reaktionen zurück ins System. Es lernt zum Beispiel, dass es zu abrupt gebremst hat und wird dies beim nächsten Mal anpassen.
Die Kooperation zwischen Mensch und Maschine funktioniert an Heidemanns Arbeitsplatz im Karlsruher Einzugsgebiet so gut, dass SEW-Eurodrive sie auf fünf weitere Montagestationen ausgeweitet hat. Auch Weltkonzerne wie VW, Airbus oder BMW erproben ähnliche Systeme. Und Wissenschaftler wie Manuela Veloso, Leiterin der Abteilung für Machine Learning an der Carnegie Mellon University, prophezeien, Mensch und smarte Roboter würden bald schon eine symbiotische Beziehung eingehen und „nicht mehr voneinander zu trennen“ sein. Sie alle zeugen vom Aufbruch in ein neues Zeitalter: Die Ära der künstlichen Intelligenz ist angebrochen. Profis kürzen den Begriff längst zu „KI“ ab.
Stimmen die Prognosen, so werden mit KI getunte Roboter nicht nur Werkshallen erobern. Kluge Softwaresysteme, in Maschinen verpackt, werden Radiologen helfen, Röntgenaufnahmen besser zu entziffern, und Ärzten, Krebs früher zu erkennen. Intelligente Software wird im Internet nach dem besten Versicherungstarif fahnden und uns persönlich beraten, welches Jobangebot wir annehmen sollten. Vor allem aber wird uns KI von jeglicher Routinearbeit befreien.
Schneller als jede Technologie zuvor wird KI unser Leben, Arbeiten und Wirtschaften umwälzen. Für das McKinsey Global Institute wird sie die Gesellschaft sogar „zehn Mal schneller und zu einem 300 Mal größeren Ausmaß oder grob gesagt mit den 3000-fachen Auswirkungen der industriellen Revolution“ verändern.
Grund genug für die WirtschaftsWoche, in einer Serie die Auswirkungen des epochalen Umbruchs zu durchleuchten. Welches ökonomische Potenzial setzt KI frei? Welche Aussichten hat dabei die Industrienation Deutschland im Wettlauf mit den Techkonzernen aus dem Silicon Valley? Wo liegen die Gefahren? Können Carmen und Co. Heidemanns Job bald ganz übernehmen?
In einem Forschungsvorhaben hielten Wissenschaftler schon 1956 fest, die Menschheit könne gewaltige Fortschritte erzielen, wenn sie Maschinen dazu brächte, Probleme zu lösen, die bisher nur von ihr geknackt werden konnten. Und dies werde möglich, „wenn nur eine Gruppe erlesener Wissenschaftler einen Sommer daran arbeitet“.
Der Durchbruch ließ lange auf sich warten
Es dauerte länger. Erst seit Unmengen an Daten in digitalisierter Form vorliegen, können selbstlernende Systeme damit ständig angefüttert werden – und entwickeln sich seither rasend schnell weiter (siehe Kasten Seite 60). Für Wolfgang Wahlster, Chef des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), ist daher klar: „Intelligente Systeme sind die Speerspitze der digitalen Transformation.“
Je früher wir uns mit der Annäherung von Mensch und Maschine auseinandersetzen, desto wirkungsvoller können wir uns ihre disruptive Kraft zunutze machen. Das jedenfalls ist die Kernbotschaft einer Studie von Topwissenschaftlern unter Leitung der Universität Stanford. Darin skizzieren Vordenker wie der Roboterpionier Rodney Brooks das ganze Ausmaß des Wandels – und setzen Zeitmarken. Demnach wird es schon in 15 Jahren so weit sein, dass praktisch in jedem Haushalt Roboter für uns putzen, kochen und das Essen servieren.
Messgeräte überwachen dann unsere Körperfunktionen und schlagen Alarm, wenn diese abweichen. Die Daten werden samt erster Diagnose an den Arzt übermittelt. „Künstliche Intelligenz kann die Gesellschaft gründlich zum Besseren verändern“, so das Fazit der KI-Pioniere.
Die Entwicklungsstufen Künstlicher Intelligenz
Der britische Informatiker entwickelt den nach ihm benannten Test. Er soll ermitteln, ob eine Maschine denken kann wie ein Mensch. Ein russischer Chat-Roboter soll ihn 2014 erstmals bestanden haben.
Experten einigen sich auf den Begriff "Künstliche Intelligenz". Der Rechner IBM 702 dient ersten Forschungen.
Katerstimmung bei den Forschern: Die Fortschritte bleiben hinter den Erwartungen zurück. Computer sind zu langsam, ihre Speicher zu klein, um die Daten von Bildern oder Tönen zu verarbeiten. Budgets werden gestrichen, erst ab 1980 geht es wieder voran.
Der Supercomputer von IBM siegt im Schachduell gegen Weltmeister Garry Kasparov. Die Maschine bewertete 200 Millionen Positionen pro Sekunde. 2011 siegt IBMs Software Watson in der Quizsendung "Jeopardy".
Der KI-Forscher sagt in einem Buch für das Jahr 2045 den Moment der "Singularität" voraus: Die Rechenleistung aller Computer erreicht die aller menschlichen Gehirne. Seit 2012 arbeitet Kurzweil für Google an KI-Systemen.
Ein Google-Programm beschreibt präzise in ganzen Sätzen, was auf Fotos zu sehen ist. Nahrungsmittelkonzern Nestlé kündigt an, 1000 sprechende Roboter namens Pepper in seinen Kaffeeläden in Japan als Verkäufer einzusetzen. Physiker Stephen Hawking warnt: KI könne eines Tages superschlau werden – und die Menschheit vernichten.
Computer sind schlau wie Menschen – und machen sogar Witze. Fabriken, Verkehr und Landwirtschaft sind nahezu komplett automatisiert.
Ökonomen sehen gar ein goldenes Wirtschaftszeitalter heraufziehen. Laut Prognosen der Berater von Accenture wird alleine die weltgrößte Volkswirtschaft, die USA, bis 2035 dank KI mit jährlich 4,6 Prozent fast doppelt so schnell wachsen wie ohne. KI könnte Japan aus der Stagnation reißen. Dort soll sie das jährliche Wachstum um mehr als das Dreifache auf 2,7 Prozent beschleunigen (siehe Grafik Seite 59), vor allem, weil die Technologie die Wettbewerbsfähigkeit der starken Roboter- und Elektronikindustrie des Landes puscht. In Deutschland soll das jährliche Wachstum von 1,4 auf 3,0 Prozent steigen. Bis 2035 würden rund eine Billion Euro zusätzlich an Staat, Unternehmen und Beschäftigte fließen.
Vier ungewöhnliche Einsatzgebiete für Roboter
Im Deutschen Technikmuseum in Berlin hilft seit November der neue Mitarbeiter Tim aus. Der Serviceroboter führt Besuchergruppen durch eine Ausstellung.
Im OP unterstützen Roboter-Systeme zunehmend die Mediziner - beispielsweise um Röntgenstrahlen exakt auf das zu untersuchende Gebiet zu richten.
Mancher Milchbauer setzt zum Beispiel auf Melkroboter. Außerdem geben Automaten jedem Tier die passende Menge Futter. Sie können auch Alarm schlagen, wenn es zu wenig frisst, weil es vielleicht krank ist und gleich Medikamente verabreichen. Auch fürs Ausmisten gibt es Roboter.
Niedlich, kuschelig und flauschig: Roboter-Robben sollen demenzkranken Menschen helfen - zum Beispiel in Japan, Norwegen und Schweden, aber auch in Deutschland werden die Tierchen genutzt.
Die Ökonomen führen die positive Wirkung auf einen Dreifacheffekt zurück: KI hebe nicht einfach nur als technischer Fortschritt die Produktivität. Sie verbessere auch eklatant die Effizienz der klassischen Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit. Wenn zum Beispiel die Plattform Amelia des US-Anbieters IPsoft selbstständig lernt, mit jedem Auftrag Servicetechnikern noch präziser und zuverlässiger vorzuschlagen, wie sie eine defekte Maschine schnell und preiswert reparieren können, steigert das beständig den Wert der Investition. Zugleich leisten die Techniker immer bessere Arbeit.
Künstliche Intelligenz werde so fast schon „die physikalischen Beschränkungen von Kapital und Arbeit überwinden“, schwärmt Accenture-Cheftechnologe Paul Daugherty. „Damit wird sie selbst zu einem Produktionsfaktor, statt nur ein Produktivitätsbeschleuniger zu sein wie frühere Basisinnovationen.“ Für den renommierten Professor David Autor vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) widerlegen die rosigen Prognosen sogar die Angst, KI sei ein Jobkiller. „Die Leute denken, sie würde das Wachstum befeuern, indem sie Menschen verdrängt. Aber in Wirklichkeit ermöglicht sie neue Produkte, Dienstleistungen und Innovationen. Das ist ihr eigentlicher Wert“, so Autor.
Ein neuer Produktionsfaktor
Die Ökonomen stützen ihren Optimismus auf Einsichten aus der Geschichte. Als in der industriellen Revolution etwa der Webstuhl automatisiert wurde, rebellierten die Weber. Doch die Automatisierung führte dazu, dass die Arbeiter andere Tätigkeiten übernahmen, zum Beispiel die Steuerung der Webmaschinen. Die Produktion stieg massiv an, es wurden mehr und neue Produkte aus den industriell gewebten Stoffen hergestellt. Zwischen 1830 und 1900 vervierfachte sich so die Zahl der Arbeitskräfte in dem Gewerbe allein in den USA.
Bei Industriemechaniker Heidemann scheint sich Geschichte schon zu wiederholen: Seit 40 Jahren ist er in seinem Beruf tätig. Dass ausgerechnet die Roboter seine Lieblingskollegen würden, das hätte er im Traum nicht gedacht. Statt wie früher die ewig gleichen Handgriffe zu erledigen, helfen die Maschinen ihm aber nun dabei, ganze Antriebe alleine zu montieren. Das erleichtere nicht nur die Arbeit, „das ist viel befriedigender“, sagt Heidemann.
Mehr Jobs, Wirtschaftswachstum, besseres Leben – ausgerechnet Technologievordenker wie Elon Musk, der Tesla-Chef, glauben nicht uneingeschränkt an das Heilsversprechen. Musk warnt sogar, KI habe das Potenzial, die Menschheit auszulöschen. Und als sich neulich auf Europas größter Techmesse, dem Web Summit, über 50.000 ihrer Vertreter in Lissabon trafen, ergab eine Umfrage unter Topwagnisinvestoren: Die Mehrheit geht davon aus, dass „KI unweigerlich Millionen Jobs vernichten wird“.
Wahrscheinlichkeit, dass Menschen innerhalb von 20 Jahren ganz oder teilweise durch Maschinen ersetzt werden
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Quelle: Frey/Osborne
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Hans-Christian Boos, Chef des Frankfurter KI-Spezialisten Arago, sieht diese Entwicklung ziemlich schnell auf uns zurollen. In spätestens fünf Jahren werde schlaue Software jeden Prozess in einem Unternehmen steuern, der sich automatisieren lässt, sagt der KI-Pionier voraus.
Ob in Banken, Versicherungen, Anwaltsbüros: Zehntausende Sachbearbeiter, Buchhalter und Sekretärinnen seien betroffen. Boos findet, das sei eine begrüßenswerte Entwicklung. Denn die Beschäftigten könnten sich dann endlich dem widmen, worin sie immer noch weit stärker seien als die Maschinen: der Kreativität.
Kreative Computer
IBMs Superrechner Watson erfindet Kochrezepte: Der Nutzer gibt Zutaten und Stile wie asiatisch oder vegan an – die Maschine erfindet ein Gericht.
Die Webplattform verkauft automatisch komponierte Songs. Der Kunde definiert Genre, Tempo und Grundstimmung.
Das kalifornische Projekt will Nutzern ermöglichen, ein eigenes Auto zu designen, das dann Software selbstständig optimiert und produziert.
Der Anbieter nutzt Strategien der Evolution, um aus Vorgaben der Kunden Skulpturen zu entwerfen, die dann ein 3-D Drucker fertigt.
Nur welche kreative Arbeit könnten die Roboter uns übrig lassen? Auch die Forscher der Stanford-Studie haben darauf keine Antwort. Sie fordern eine Debatte, wie die Pfründe gerecht verteilt werden könnten. Und Techgrößen wie Musk wollen ein Grundeinkommen, um Menschen gegen die Umwälzungen zu „versichern“.
Zwischen Optimismus und Pessimismus bleibt so eine Erkenntnis: Am Ende wird es auf jeden Staat, jede Gesellschaft und jedes Unternehmen selbst ankommen, in welche Richtung sie die explosive Kraft der KI bündeln. Und sicher ist: Mehr denn je werden sie in Bildung und Fortbildung investieren, jeder Einzelne Lernen als lebenslange Aufgabe begreifen müssen. Für SEW-Mechaniker Heidemann in seiner Karlsruher Werkshalle kommt der Wandel zur rechten Zeit. Seit die Roboter ihm die körperlich schwere Arbeit abnehmen, ist er zuversichtlich, die Zeit bis zur Rente bestens zu überstehen.
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Im nächsten Teil: Nvidia-Chef Jen-Hsun Huang machte als einer der Ersten ein Milliardengeschäft mit KI.
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