Serie: Künstliche Intelligenz Aufbruch in die Robo-Zukunft

Lange waren selbstlernende Maschinen Science Fiction. Experten erwarten nun, dass schon in 15 Jahren in nahezu jedem Haushalt Roboter für uns putzen und kochen. Welche Chancen und Gefahren birgt Künstliche Intelligenz?

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Roboter steuert eine Maschine. Quelle: Getty Images

Als sich Jürgen Heidemanns neulich sozusagen Auge in Auge einem Roboter gegenübersah, da war dem Industriemechaniker erst einmal ziemlich mulmig zumute. Der 58-Jährige war an die maschinellen Helfer in seiner Arbeitshalle nur aus sicherer Entfernung gewöhnt: Bisher standen sie stets hinter Gittern, damit sie ja niemanden mit ihren abrupten Bewegungen verletzen.

Doch nun wuseln um ihn in der Werkshalle von SEW-Eurodrive, einem Unternehmen, das sich mit Antriebstechnik beschäftigt, kleine blinkende Gefährte herum, die aussehen wie ein aufgemotztes Skateboard. Sie fahren brav Wellen und Zahnräder zu seiner Montagestation. Carmen, ein anderer Roboter – oder genauer gesagt, ein Roboterarm –, hebt das schwere Getriebegehäuse mit ihren Zangen und hält es für ihn in Position, wenn Heidemann es mit dem Elektromotor verschrauben will. Und Heidemanns Unsicherheit ist verflogen.

Denn die neuartigen Gehilfen sind dank künstlicher Intelligenz (KI) unter der Maschinenhaube so programmiert, dass sie sich nach seinem Tempo und seinen Bedürfnissen richten. Und sie lernen stets dazu, wie sich die Montage im Zusammenklang mit ihm, dem Menschen, optimieren lässt. Sein Fazit: Alles sei jetzt „genau da, wo ich es brauche“.

Schneller schlau: So lernen Maschinen das Denken

Die Kooperation zwischen Mensch und Maschine funktioniert an Heidemanns Arbeitsplatz im Karlsruher Einzugsgebiet so gut, dass SEW-Eurodrive sie auf fünf weitere Montagestationen ausgeweitet hat. Auch Weltkonzerne wie VW, Airbus oder BMW erproben ähnliche Systeme. Und Wissenschaftler wie Manuela Veloso, Leiterin der Abteilung für Machine Learning an der Carnegie Mellon University, prophezeien, Mensch und smarte Roboter würden bald schon eine symbiotische Beziehung eingehen und „nicht mehr voneinander zu trennen“ sein. Sie alle zeugen vom Aufbruch in ein neues Zeitalter: Die Ära der künstlichen Intelligenz ist angebrochen. Profis kürzen den Begriff längst zu „KI“ ab.

Stimmen die Prognosen, so werden mit KI getunte Roboter nicht nur Werkshallen erobern. Kluge Softwaresysteme, in Maschinen verpackt, werden Radiologen helfen, Röntgenaufnahmen besser zu entziffern, und Ärzten, Krebs früher zu erkennen. Intelligente Software wird im Internet nach dem besten Versicherungstarif fahnden und uns persönlich beraten, welches Jobangebot wir annehmen sollten. Vor allem aber wird uns KI von jeglicher Routinearbeit befreien.

Schneller als jede Technologie zuvor wird KI unser Leben, Arbeiten und Wirtschaften umwälzen. Für das McKinsey Global Institute wird sie die Gesellschaft sogar „zehn Mal schneller und zu einem 300 Mal größeren Ausmaß oder grob gesagt mit den 3000-fachen Auswirkungen der industriellen Revolution“ verändern.

Grund genug für die WirtschaftsWoche, in einer Serie die Auswirkungen des epochalen Umbruchs zu durchleuchten. Welches ökonomische Potenzial setzt KI frei? Welche Aussichten hat dabei die Industrienation Deutschland im Wettlauf mit den Techkonzernen aus dem Silicon Valley? Wo liegen die Gefahren? Können Carmen und Co. Heidemanns Job bald ganz übernehmen?

In einem Forschungsvorhaben hielten Wissenschaftler schon 1956 fest, die Menschheit könne gewaltige Fortschritte erzielen, wenn sie Maschinen dazu brächte, Probleme zu lösen, die bisher nur von ihr geknackt werden konnten. Und dies werde möglich, „wenn nur eine Gruppe erlesener Wissenschaftler einen Sommer daran arbeitet“.

Der Durchbruch ließ lange auf sich warten

Es dauerte länger. Erst seit Unmengen an Daten in digitalisierter Form vorliegen, können selbstlernende Systeme damit ständig angefüttert werden – und entwickeln sich seither rasend schnell weiter (siehe Kasten Seite 60). Für Wolfgang Wahlster, Chef des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), ist daher klar: „Intelligente Systeme sind die Speerspitze der digitalen Transformation.“

Je früher wir uns mit der Annäherung von Mensch und Maschine auseinandersetzen, desto wirkungsvoller können wir uns ihre disruptive Kraft zunutze machen. Das jedenfalls ist die Kernbotschaft einer Studie von Topwissenschaftlern unter Leitung der Universität Stanford. Darin skizzieren Vordenker wie der Roboterpionier Rodney Brooks das ganze Ausmaß des Wandels – und setzen Zeitmarken. Demnach wird es schon in 15 Jahren so weit sein, dass praktisch in jedem Haushalt Roboter für uns putzen, kochen und das Essen servieren.

Messgeräte überwachen dann unsere Körperfunktionen und schlagen Alarm, wenn diese abweichen. Die Daten werden samt erster Diagnose an den Arzt übermittelt. „Künstliche Intelligenz kann die Gesellschaft gründlich zum Besseren verändern“, so das Fazit der KI-Pioniere.

Die Entwicklungsstufen Künstlicher Intelligenz

Ökonomen sehen gar ein goldenes Wirtschaftszeitalter heraufziehen. Laut Prognosen der Berater von Accenture wird alleine die weltgrößte Volkswirtschaft, die USA, bis 2035 dank KI mit jährlich 4,6 Prozent fast doppelt so schnell wachsen wie ohne. KI könnte Japan aus der Stagnation reißen. Dort soll sie das jährliche Wachstum um mehr als das Dreifache auf 2,7 Prozent beschleunigen (siehe Grafik Seite 59), vor allem, weil die Technologie die Wettbewerbsfähigkeit der starken Roboter- und Elektronikindustrie des Landes puscht. In Deutschland soll das jährliche Wachstum von 1,4 auf 3,0 Prozent steigen. Bis 2035 würden rund eine Billion Euro zusätzlich an Staat, Unternehmen und Beschäftigte fließen.

Vier ungewöhnliche Einsatzgebiete für Roboter

Die Ökonomen führen die positive Wirkung auf einen Dreifacheffekt zurück: KI hebe nicht einfach nur als technischer Fortschritt die Produktivität. Sie verbessere auch eklatant die Effizienz der klassischen Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit. Wenn zum Beispiel die Plattform Amelia des US-Anbieters IPsoft selbstständig lernt, mit jedem Auftrag Servicetechnikern noch präziser und zuverlässiger vorzuschlagen, wie sie eine defekte Maschine schnell und preiswert reparieren können, steigert das beständig den Wert der Investition. Zugleich leisten die Techniker immer bessere Arbeit.

Künstliche Intelligenz werde so fast schon „die physikalischen Beschränkungen von Kapital und Arbeit überwinden“, schwärmt Accenture-Cheftechnologe Paul Daugherty. „Damit wird sie selbst zu einem Produktionsfaktor, statt nur ein Produktivitätsbeschleuniger zu sein wie frühere Basisinnovationen.“ Für den renommierten Professor David Autor vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) widerlegen die rosigen Prognosen sogar die Angst, KI sei ein Jobkiller. „Die Leute denken, sie würde das Wachstum befeuern, indem sie Menschen verdrängt. Aber in Wirklichkeit ermöglicht sie neue Produkte, Dienstleistungen und Innovationen. Das ist ihr eigentlicher Wert“, so Autor.

Ein neuer Produktionsfaktor

Die Ökonomen stützen ihren Optimismus auf Einsichten aus der Geschichte. Als in der industriellen Revolution etwa der Webstuhl automatisiert wurde, rebellierten die Weber. Doch die Automatisierung führte dazu, dass die Arbeiter andere Tätigkeiten übernahmen, zum Beispiel die Steuerung der Webmaschinen. Die Produktion stieg massiv an, es wurden mehr und neue Produkte aus den industriell gewebten Stoffen hergestellt. Zwischen 1830 und 1900 vervierfachte sich so die Zahl der Arbeitskräfte in dem Gewerbe allein in den USA.

Bei Industriemechaniker Heidemann scheint sich Geschichte schon zu wiederholen: Seit 40 Jahren ist er in seinem Beruf tätig. Dass ausgerechnet die Roboter seine Lieblingskollegen würden, das hätte er im Traum nicht gedacht. Statt wie früher die ewig gleichen Handgriffe zu erledigen, helfen die Maschinen ihm aber nun dabei, ganze Antriebe alleine zu montieren. Das erleichtere nicht nur die Arbeit, „das ist viel befriedigender“, sagt Heidemann.

Mehr Jobs, Wirtschaftswachstum, besseres Leben – ausgerechnet Technologievordenker wie Elon Musk, der Tesla-Chef, glauben nicht uneingeschränkt an das Heilsversprechen. Musk warnt sogar, KI habe das Potenzial, die Menschheit auszulöschen. Und als sich neulich auf Europas größter Techmesse, dem Web Summit, über 50.000 ihrer Vertreter in Lissabon trafen, ergab eine Umfrage unter Topwagnisinvestoren: Die Mehrheit geht davon aus, dass „KI unweigerlich Millionen Jobs vernichten wird“.

Wahrscheinlichkeit, dass Menschen innerhalb von 20 Jahren ganz oder teilweise durch Maschinen ersetzt werden

Hans-Christian Boos, Chef des Frankfurter KI-Spezialisten Arago, sieht diese Entwicklung ziemlich schnell auf uns zurollen. In spätestens fünf Jahren werde schlaue Software jeden Prozess in einem Unternehmen steuern, der sich automatisieren lässt, sagt der KI-Pionier voraus.

Ob in Banken, Versicherungen, Anwaltsbüros: Zehntausende Sachbearbeiter, Buchhalter und Sekretärinnen seien betroffen. Boos findet, das sei eine begrüßenswerte Entwicklung. Denn die Beschäftigten könnten sich dann endlich dem widmen, worin sie immer noch weit stärker seien als die Maschinen: der Kreativität.

Kreative Computer

Nur welche kreative Arbeit könnten die Roboter uns übrig lassen? Auch die Forscher der Stanford-Studie haben darauf keine Antwort. Sie fordern eine Debatte, wie die Pfründe gerecht verteilt werden könnten. Und Techgrößen wie Musk wollen ein Grundeinkommen, um Menschen gegen die Umwälzungen zu „versichern“.

Zwischen Optimismus und Pessimismus bleibt so eine Erkenntnis: Am Ende wird es auf jeden Staat, jede Gesellschaft und jedes Unternehmen selbst ankommen, in welche Richtung sie die explosive Kraft der KI bündeln. Und sicher ist: Mehr denn je werden sie in Bildung und Fortbildung investieren, jeder Einzelne Lernen als lebenslange Aufgabe begreifen müssen. Für SEW-Mechaniker Heidemann in seiner Karlsruher Werkshalle kommt der Wandel zur rechten Zeit. Seit die Roboter ihm die körperlich schwere Arbeit abnehmen, ist er zuversichtlich, die Zeit bis zur Rente bestens zu überstehen.

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Im nächsten Teil: Nvidia-Chef Jen-Hsun Huang machte als einer der Ersten ein Milliardengeschäft mit KI.

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