
„Anonymität bedeutet Authentizität.“ Diese Botschaft hatte Christopher Poole für das Publikum des diesjährigen South by Southwest, einem Festival für Musik, Film und interaktive Medien im texanischen Austin. Poole, der als Gründer des Mitteilungsforums 4chan.org bekannt wurde, stellt so etwas wie die Galionsfigur der Anonymitätsbewegung im Internet dar.
Entsprechend ließ sich der 22-Jährige, der auf dem Festival sein neues Unternehmen Canvas präsentierte, die Gelegenheit zur Kritik an Facebook nicht entgehen. Das soziale Netz akzeptiert nur noch Nutzer, die ihren echten Namen angeben, und vor drei Jahren hatte Mark Zuckerberg auf dem „SXSW“ argumentiert, so werde das Internet freundlicher und sicherer. „Völlig falsch“ liege er mit diesem Ansatz, sagte Poole vor der versammelten Gemeinde von Computer- und Internetfreaks.
Blogger im brechend vollen Zuschauerraum stellten Pooles Spitzen sofort online, und draußen vor dem Saal hatten die Scharen von Techies in der texanischen Sonne Diskussionsstoff. Die Schauspielerin Felicia Day, ebenfalls Gast der Veranstaltung, legte bei der Werbung für ihre neue Web-TV-Serie eine Pause ein, um Poole Rückendeckung zu geben. Ohne die Chance, unerkannt zu bleiben, sagt Day, würden viele Menschen vieles nicht versuchen, da sie Angst vor dem Scheitern oder Spott hätten.
Das Tauziehen zwischen Befürwortern und Gegnern der Anonymität ist auch finanziell relevant: Prognosen des Marktforschungsunternehmens eMarketer zufolge wird Facebook dieses Jahr vier Milliarden Dollar Umsatz erzielen – und eines der Verkaufsargumente bei Werbekunden lautet, dass die Seiten des sozialen Netzes sauber und gut beleuchtet und Marken vor anonymen Provokateuren sicher sind.
Seit den Tagen des Telefonmodems und von AOL ist es im Internet leicht, seine Identität zu verbergen. Chaträume, Mitteilungsforen und Anmeldedaten wimmeln vor sinnlosen Namen wie „cool_guy123“. Bei Facebook mit seinen rund 600 Millionen Nutzern müssen neue Mitglieder zur Anmeldung inzwischen jedoch ihren echten Namen nennen, und ein 150 Personen starkes Sicherheitsteam überwacht die Einhaltung dieser Regel. Dabei geht der Zwang zur Transparenz über Facebook selbst hinaus. Auf Webseiten, die den Service Facebook Connect nutzen – weltweit rund 2,5 Millionen – müssen neue Nutzer nicht extra ein neues Passwort und Log-in-Namen anlegen. Sie melden sich einfach mit den bestehenden Facebook-Daten an, sind damit aber ebenfalls sofort identifizierbar.
Seit März hat Facebook zudem ein Gratisangebot für Webseiten mit Kommentarfunktion. Bisher stolpert man in Leserbeiträgen unter Blog- und Nachrichtenartikeln dauernd über gehaltlose und bösartige Äußerungen. Durch das neue System von Facebook können die Seitenbetreiber Beitragsschreiber nun mit deren Konto bei dem sozialen Netz verbinden, sodass Profilbild und Klarname neben dem Kommentar erscheinen. Ziel sei, den gehässigen Ton zu unterbinden, der in der Anonymität entstehe, sagt Andrew Bosworth, Chefentwickler bei Facebook. „Durch Ihre Identität steigt der Wert der Kommentare.“
Die Beiträge enthalten potenziell aber auch Informationen, durch die Facebook Anzeigen genauer platzieren kann, und die Partnerseiten profitieren von mehr Besuchern. Bei der Nachrichtenseite Examiner.com verdoppelte sich der von Facebook eingehende Besucherstrom am ersten Tag nach der Einbindung der Facebook-Daten. Auf der Webseite des Sportmagazins Sporting News sei der Umgangston in den Leserkommentaren bisher „allenfalls blamabel“ gewesen, sagt Präsident und Herausgeber Jeff Price. Seit der Einführung von Facebook Comments habe sich das Niveau jedoch verbessert – und damit die Wahrnehmung der Seite bei Werbekunden. Insgesamt führten in den ersten beiden Wochen nach der Freischaltung der Funktion 17.000 Webseiten Facebook Comments ein.