„Software as a Service“ Warum sich der deutsche Mittelstand mit IT aus dem Ausland so schwer tut

Quelle: imago images

Weltweit werden schnell wachsende Softwarefirmen mit Kapital überschüttet. Viele wollen mit deutschen Konzernen und Mittelständlern lukrative Geschäfte machen. Doch der Markteintritt verlangt häufig mehr Arbeit als gedacht.

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Drei Milliarden Dollar mehr Firmenwert in eineinhalb Jahren: Im Frühjahr 2020 taxierten Investoren die belgisch-amerikanische Softwarefirma Collibra noch auf 2,35 Milliarden Dollar. Jetzt liegt der Wert bei stolzen 5,25 Milliarden Dollar. Beleg für den jüngsten Sprung ist eine Mitte November bekannt gegebene Finanzierungsrunde, bei der 250 Millionen Dollar in die Firma fließen – neu dabei sind die Risikokapitalgeber Sequoia, Tiger Global und die Investmentfirma Sofina, die von der belgischen Industriellenfamilie Boël kontrolliert wird.

Die Geldgeber hoffen weiter auf ungebremstes Wachstum: Collibra baut eine Software, die es Konzernen ermöglicht, ihre weit verstreuten Daten zusammenzuführen, zu kontrollieren, zu benutzen. Nach der Gründung 2008 war vor allem das Interesse aus der Finanzbranche groß, die plötzlich strengere Vorgaben der Aufsichtsbehörden erhielt. Mit dem Wandel hin zu datengetriebenen Unternehmen, hin zu Machine-Learning-Anwendungen, steigt der Bedarf immer weiter. „Wir spüren viel Rückenwind“, sagt Co-Gründer Felix Van de Maele im Gespräch mit der WirtschaftsWoche.

Allein ist Collibra damit nicht. Weltweit boomt das Geschäft von sogenannten Software-as-a-Service-(SaaS)-Anbietern. 145 Milliarden Dollar könnten im kommenden Jahr weltweit für solche Nutzungsgebühren ausgegeben werden, schätzt Marktforscher Gartner. In wenigen Jahren sind dabei aus Start-ups versteckte Softwareriesen geworden. Viele von ihnen mit speziellen, kleinteiligen Anwendungen, die ein klar abgegrenztes Problem in Unternehmen lösen. Workday, das Programme für die Personalarbeit baut, macht 15 Jahre nach der Gründung bereits mehr als vier Milliarden Dollar Umsatz. Twilio, das Firmen bei der Kommunikation mit Kunden hilft, erlöste im Jahr 2020 mehr als 1,7 Milliarden Dollar.

Aus dem gelobten Land ins lukrative Europa

Die meisten der Anbieter stammen dabei aus den USA, dem gelobten Land für SaaS-Unternehmen. Collibra wurde in Brüssel gegründet, verlegte seinen Hauptsitz aber schnell nach New York – heute steht der amerikanische Markt für gut 60 Prozent des Umsatzes. Doch auf dem globalen Wachstumskurs der Software-Firmen wird Europa immer interessanter. Und Deutschland steht meist ganz oben auf der Agenda: „Der deutsche Markt ist relevant für uns – aber wir fangen hier gerade erst an“, sagt Van de Maele.

Neben den Konzernen aus Dax und Co. ist vor allem der größere Mittelstand ein begehrtes Ziel: Zahlreiche Industriebetriebe sind in der Provinz daheim, beschäftigen aber weltweit zehntausende Mitarbeiter und haben häufig Nachholbedarf bei digitalen Hilfsmitteln. So locken lukrative Verträge. Doch der Weg dahin ist mühsam, weiß Maximilian Hille, Head of Consulting beim IT-Dienstleister und Beratungshaus Cloudflight: „Man kann hierzulande nicht von Null auf 100 durchstarten.“

Software-Anbieter müssen die richtige Balance finden: Auf der einen Seite kommen die hohen Margen daher, dass sie ein möglichst standardisiertes Angebot vertreiben. Auf der anderen Seite fordern große Geschäftskunden eine individuelle Betreuung ein, samt einer kürzeren oder längeren Liste mit Anpassungswünschen an die eigenen Systeme. „Anbieter müssen genau verstehen, was ein potenzieller Kunde in seiner ganz speziellen Situation braucht“, sagt Analyst Hille. „Der IT-Bedarf von einem Automobilzulieferer und einem metallverarbeitenden Betrieb mag sich kaum unterscheiden – aber sie müssen trotzdem ganz anders angesprochen werden.“

Wenig Chancen ohne lokale Teams

Aus der Ferne ist das kaum zu leisten. Die Expansion nach Deutschland erfordert daher in den meisten Fällen auch eigene Mitarbeiter im Land. Wenn es nach den Beobachtungen von Berater Hille geht, am besten sogar eine eigene GmbH – die vermittelt dem Mittelstand mehr Seriosität als ein Service-Center in Houston oder London. Der US-Anbieter Safeguard Global, dessen Programme bei der Gehaltsabrechnung und Personalverwaltung helfen, kündigte in diesen Tagen an, sein Büro in Deutschland kräftig auszubauen – „um näher an seinen Partnern in der DACH-Region zu sein und potenzielle Partner für sich zu gewinnen.“ Häufig werden dabei große Hoffnungen auf relativ wenige Schultern verteilt: Etwa zehn von 1000 Collibra-Mitarbeitern sitzen aktuell in Deutschland, berichtet Gründer Van de Maele.

Doch die Firma hat – wie viele Konkurrenten – aktuell hierzulande Stellen als „Customer Success Manager“ oder „Solution Architect“ ausgeschrieben. Dahinter verbergen sich Profile, die eine noch seltene Mischung an Fähigkeiten erfordern: Ein solides technisches Verständnis für das komplizierte Software-Produkt und viel Geduld für die Beschwerden der Kunden. Denn auch wenn SaaS-Anbieter gerne mit dem unkomplizierten Einstieg werben: In der Praxis sorgen neue Programme in den ersten Wochen und Monaten für viel Ärger. 60 Prozent der Beschäftigten sind erst einmal frustriert, wenn sie mit ungewohnter Software arbeiten müssen, zeigt eine aktuelle Gartner-Umfrage.

Mühsames Werben um den nächsten Großkunden

Neben der Betreuung müssen ausländische Softwarefirmen auch die passenden Zugänge finden. „Es ist wichtig, den lokalen Teams zu vertrauen, die die Bedingungen vor Ort kennen“, sagt Van de Maele. Denn auch Marketing- und Vertriebsstrategien können nicht einfach aus den USA auf den deutschen Markt übertragen werden. Bevor ein Konzern oder Mittelständler seine Systeme umstellt, vergehen viele Monate mit Verhandlungen – am Tisch sitzen dabei nicht nur Fachbereich und IT-Abteilung des Kunden, sondern auch dessen Einkäufer sowie häufig die Datenschutzbeauftragten.

Die größere Herausforderung ist es aber für viele Anbieter, überhaupt erst einmal auf den Schirm der potenziellen Kunden zu kommen. Besonders beliebt sind dabei Referenzkunden, möglichst aus einer eng verwandten Branche. Collibra verweist auf „500 globale Unternehmen“ als Kunden und führt auf der Homepage unter anderem gemeinsame Projekte mit der Rückversicherungssparte der Axa oder der norwegischen Großbank DNB auf. Review-Plattformen für Software sind ebenfalls ein Weg für Anbieter, um sich Bekanntheit in ihrer Kategorie zu verschaffen – die Plattformen selbst wollen sich so ein Stück des Marketingbudgets sichern. Traditionell setzt gerade der kleinere Mittelstand aber noch stark auf IT-Systemhäuser aus der Umgebung, die für die passende Hard- und Software sorgen. Diese Systemhäuser haben SaaS-Lösungen noch nicht immer prominent in ihrem Angebot für die Unternehmen platziert, beobachtet Analyst Hille.

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Die Softwarefirmen setzen daher trotz des Fokus auf Geschäftskunden immer wieder auf plakative Botschaften, um auf sich aufmerksam zu machen. Collibra etwa spricht von den „Data Citizens“, den „Datenbürgern“, um zu vermitteln, welche breiten Gruppen von der eigenen Software profitieren. „Es ist schon viel einfacher als noch vor zehn Jahren“, sagt Gründer Van de Maele über die Marketingbemühungen, „aber natürlich sind wir immer noch früh dran – und wir müssen immer noch ein wenig Bildungsarbeit betreiben“.

Mehr zum Thema: Erstmals hat ein Start-up aus Deutschland einen Unternehmenswert von mehr als zehn Milliarden Dollar erreicht. Wie es jetzt mit Celonis, dem ersten Decacorn der Nation, weitergeht, erzählt Co-Chef Bastian Nominacher.

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