Energie Strom ernten

Akkus, Schalter, Straßen und Flugzeuge erzeugen immer öfter ihren eigenen Strom. Dafür nutzen sie weder Benzin noch Gas – sie wandeln Vibrationen, Schall oder Fahrtwind in Elektrizität. Das Zeitalter der selbstversorgenden Technik beginnt.

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Wellendrohne

Es gibt bessere Monate für eine Pazifiküberquerung als den September: Tropenstürme peitschen über das Meer, es blitzt, es regnet, und vor der kalifornischen Küste brechen meterhohe Wellen. Aber Luke Beatman ist das nur recht. Hoher Wellengang bringt die Drohnen, die der Ingenieur des kalifornischen Startups Liquid Robotics in vier Wochen auf die Reise über den Ozean schicken will, sogar schneller zum Ziel. Denn seine surfbrettartigen Wellenreiter – Stückpreis ab 150 000 Dollar – haben keinen Motor, Propeller oder Benzintank. Sie nutzen die Bewegungsenergie des Meeres.

Dazu führen sie in sieben Meter Tiefe  an einem Seil einen Spezialantrieb mit sich, der mit seinen beweglichen Lamellen aussieht wie ein Lattenzaun. Die Konstruktion ist so simpel wie genial: Wird die Drohne an der Wasseroberfläche von einer Welle hochgetragen, zieht sie ihren tauchenden Begleiter mit in die Höhe. Dabei klappen seine Lamellen durch den Wasserdruck nach unten – und erzeugen dabei Vortrieb, wie die Rückflosse eines Wals. Mit 3,7 Kilometern pro Stunde schwimmt die energieautarke Drohne so in jede gewünschte Richtung – ohne je anhalten zu müssen. Die Bordinstrumente wie Navigation oder Funk werden mit kleinen Solarmodulen geladen.

Maritimer Rekordversuch

Beatman will zwei energieautarke Wellenreiter nun auf eine 11 000-Kilometer-Reise von San Francisco nach Australien und Japan schicken – "das wäre Weltrekord", sagt Beatman, der die Fahrt beim Guinessbuch der Rekorde angemeldet hat.

Der maritime Rekordversuch ist nur eines der spektakulären Beispiele einer Technologie, die Restenergie aus der Umgebung nutzt, um Strom zu erzeugen: Neuartige Windräder wandeln Fahrtwind an Straßen in Elektrizität um, innovative Stoßdämpfer treiben bei jedem Schlagloch einen Generator an, und winzige Industriesensoren versorgen sich autark mit Energie, indem sie Wärme in Strom verwandeln. Auch aus kleinsten Vibrationen, Radiosignalen und sogar Schallwellen ernten neuartige Energiewandler Strom.

Energie-Ernte

Fachleute sprechen dabei von Energy Harvesting, zu Deutsch: Energie-Ernte. Und die Idee ist nicht einmal ganz neu: Seit Jahrzehnten erzeugen Fahrraddynamos Strom nebenbei – auch manche Armbanduhren speisen sich aus Bewegungsenergie.

Künftig aber soll dieses Prinzip weite Teile der Industrie und unseres Alltags erobern: Sensoren, Implantate, Mobiltelefone und sogar Elektroflugzeuge sollen ihre Energie selbst erzeugen. "Energy Harvesting spielt bei zahlreichen Zukunftstechnologien eine Rolle", sagt Peter Harrop vom US-Technologiemarktforschungsunternehmen IDTechEx. Die Amerikaner taxieren das weltweite Geschäft mit der Technik in diesem Jahr auf 663 Millionen Dollar; bis 2021 soll der Markt auf 4,4 Milliarden Dollar wachsen – etwa 3,1 Milliarden Euro.

Strom aus Schall

Dabei werden die Grenzen der Energieversorgung, wie wir sie kennen, gesprengt. Künftig sind etwa Netzwerke aus batterielosen Funksensoren möglich, die sich autark mit Energie versorgen. Damit lassen sich Sensoren auch an Orten betreiben, die nur schwer oder gar nicht erreichbar sind: im Beton großer Brücken zum Beispiel, wo die Messfühler rechtzeitig vor Rissen warnen können.

Oder in der Luftfahrtindustrie: EADS-Forscher kleben bereits testweise batterielose Sensoren an Flugzeugrümpfe, die ins Cockpit melden, wenn sich der Zustand von Verschleißteilen verschlechtert. Ihren Strom erzeugen die Sensoren mit sogenannten Thermogeneratoren. Das sind kleine Silizium-Chips, etwa des Freiburger Startups Micropelt, die Elektrizität erzeugen, sobald zwischen ihren Enden ein Temperaturunterschied entsteht – zum Beispiel zwischen dem warmen Metallkörper eines Flugzeugs und der eiskalten Luft. Vom Seebeck-Effekt sprechen Physiker dabei.

Das britische Startup Perpetuum wiederum will bald elektronische Fühler liefern, die Bremslager von Eisenbahnwaggons überwachen. Die Minisender generieren Energie mithilfe der Vibration des Zuges. Eine winzige Metallspule nimmt die Bewegung auf und schwingt dabei viele Male pro Sekunde an einem Magneten vorbei. Wie bei einem Fahrraddynamo entsteht dabei elektrische Spannung. Sogar energiehungrige GPS-Chips von Containern auf der Ladefläche des Zuges ließen sich mit dieser Technik betreiben, sagt Perpetuum-Chef Roy Freeland.

Den ganzen Tag fliegen

Doch die neuen Sensoren sollen auch tief in unseren Alltag dringen. Mit batterielosen Schaltern etwa, die Heizungen oder die Beleuchtung steuern. Ganz weit vorne in dem Feld ist der Oberhachinger Funksensoranbieter Enocean, der allerhand autarke Sender produziert: Solarbetriebene Sensoren in Fenstergriffen etwa schalten per Funk die Heizung aus, wenn jemand das Fenster öffnet. Nächstes Jahr soll laut Enocean auch ein Heizungsventil auf den Markt kommen, das Betriebsenergie aus der Wärme des Heizkörpers gewinnt und per Handy steuerbar ist. Bis zu 40 Prozent Energiekosten sparen Hausbesitzer mit solchen Techniken, sagt der Anbieter.

Dass Energy Harvesting überhaupt funktioniert, verdanken die Ingenieure einem Naturgesetz, auf das bereits im Jahr 1840 der Heilbronner Physiker Julius Robert von Mayer stieß. Als von Mayer mit 26 Jahren als Schiffsarzt auf einem holländischen Dreimaster nach Indonesien anheuerte, machte er eine fundamentale Beobachtung: Aufgewühlte Wogen waren stets wärmer als die ruhige See.

Aus Bewegung, schloss von Mayer, war Wärme geworden. Dank dieser Zufallserkenntnis entwickelte der Amateurphysiker eines der wichtigsten Gesetze der Physik, den sogenannten Energieerhaltungssatz. Es besagt: Energie wird nie vernichtet, sie wechselt nur die Form.

Ingenieure nutzen das nun aus – und zwar so effizient, dass sie aus vermeintlicher Abfallenergie auch ganz beträchtliche Mengen Strom zurückgewinnen. Das Elektroflugzeug X2, das der US-Elektroflugzeugbauer Electraflyer dieses Jahr auf den Markt bringt, kann seinen Propeller im Sinkflug oder bei starken Aufwinden per Knopfdruck in einen Stromgenerator für die Bordbatterie verwandeln. "Sie können dann praktisch den ganzen Tag lang fliegen", sagt Gründer Randall Fishman.

Das Prinzip ist Besitzern von Hybridautos wie dem Prius von Toyota bereits bekannt – dort treiben die Bremsen einen Stromgenerator an. Diese sogenannte Rekuperation erzeugt mit einem Bremsvorgang an der Ampel genug Strom, um anschließend bis zu mehrere Hundert Meter elektrisch zu fahren.

Beim Spritsparen helfen bald auch Generatoren, die die Abwärme am Auspuffrohr in Strom umwandeln: Die Technologiekonzerne Siemens, Bosch und das Freiburger Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik (IPM) arbeiten im EU-Projekt HeatReCar an genau so einer Idee. "Das Ziel ist ein Kilowatt", sagt Fraunhofer-Forscher Kilian Bartholomé. "Damit ließe sich fast die Lichtmaschine ersetzen – und geschätzte fünf Prozent Benzin sparen."

Schon ab 2012 werden in Bussen und Lastwagen Stoßdämpfer des US-Startups Levant Power bis zu 400 Watt Strom erzeugen. Nach ausgiebigen Tests erwarten die Amerikaner, dass ein Truck damit ein Prozent weniger Sprit verbraucht. Das klingt wenig – summiert sich aber bei 192 000 Kilometern, die US-Trucks im Schnitt pro Jahr fahren, zu 800 Dollar Spritersparnis.

Solche Techniken werden immer wichtiger, weil Benzin immer teurer wird und die Autohersteller alle paar Jahre strengere CO2-‧Grenzwerte erfüllen müssen.

Steigende Energiekosten setzen allerdings auch die öffentlichen Haushalte unter Druck: Allein für die Straßenbeleuchtung geben deutsche Kommunen laut Städte- und Gemeindebund pro Jahr 570 Millionen Euro aus. Zudem wächst die Zahl an Verkehrssensoren oder elektronischen Hinweistafeln, die bis dato kostenaufwendig verkabelt werden.

Solarstraße

Auch hier bietet Energy Harvesting Lösungen: Der französische Autobahnbetreiber Autoroute Paris-Rhin-Rhône etwa testet an der Autobahn A6 südlich von Paris eine Windkraftanlage, die Strom aus dem Fahrtwind vorbeifahrender Autos gewinnt. Damit ließen sich beleuchtete Infotafeln oder Wetterstationen mit Strom versorgen.

Vielleicht jedoch müssen sich die Ingenieure künftig nicht mit dem Straßenrand begnügen: Der Ausschuss für natürliche Ressourcen des Bundesstaates Kalifornien hat im April einen Antrag des Abgeordneten Mike Gatto angenommen, Strom erzeugende Straßen zu testen, wie sie das israelische Startup Innowattech entwickelt. Die Spezialisten spicken den Asphalt mit piezoelektronischen Fasern – Keramiken, die Strom abgeben, wenn sie Druck ausgesetzt sind.

Nach einem Test auf einem zehn Meter langen Straßenabschnitt erwarten die Israelis, auf einer viel befahrenen Straßenspur stündlich 200 Kilowattstunden zu produzieren – Strom für 300 Haushalte. Das klingt nach Science-Fiction – aber dass auf diese Weise beträchtliche Mengen Strom gewonnen werden können, beweisen Clubgänger in London und Rotterdam: Das niederländische Startup Sustainable Dance Club hat dort Bodenplatten mit Minidynamos eingebaut, die aus den Tanzschritten Strom für die Clubbeleuchtung liefern.

Autarke Herzschrittmacher

Der menschliche Körper ist ein erstaunliches Kraftwerk: 200 Watt Bewegungsenergie wendet er beim Treppensteigen auf, 70 Watt Wärme gibt er im Ruhezustand ab, und beim Radfahren erzeugen Sportler kurzzeitig sogar ein Kilowatt. Fitnessgeräte des US-Startups The Green Revolution nutzen das bereits, um Strom zu gewinnen – bislang wegen der hohen Gerätekosten allerdings eher als Werbegag.

Doch Mediziner wollen das Energiereservoir im Menschen ernsthaft anzapfen, um etwa Implantate mit Strom zu versorgen. Der Forscher Zhong Lin Wang vom Georgia Institute of Technology im amerikanischen Atlanta arbeitet dafür an piezoelektronischen Drähten, die allein aus den Bewegungen einer Arterie Energie für kleine medizinische Geräte gewinnen – Funksensoren zum Beispiel, die den Druck in Gefäßen messen.

LED-Fussball

Mediziner wollen damit auch Implantate wie Herzschrittmacher energieautark machen – bisher müssen sich Patienten alle zehn Jahre zum Batteriewechsel einer Operation unterziehen. Wissenschaftler vom Institut für Mikrosystemtechnik (Imtek) der Universität Freiburg haben dafür eine Brennstoffzelle gebaut, die Strom aus Blutzucker gewinnt. Imtek-Forscher Sven Kerzenmacher hofft, dass damit in wenigen Jahren ein Herzschrittmacher zugelassen wird, dem nie der Strom ausgeht.

Neue Energiewandler lösen indes auch ganz alltägliche Probleme – leere Akkus im MP3-Spieler etwa, wenn man unterwegs ist. So verkauft das US-Startup Tremont Electric einen dynamoartigen Energiewandler, der aus Körperbewegungen Strom gewinnt: Der 23 Zentimeter große Rundstab namens nPower PEG lässt sich an einem Rucksack befestigen und erzeugt Schritt für Schritt Strom. Eine Minute Wandern soll genug Energie bringen, um einen iPod Nano eine Minute betreiben zu können, verspricht der Hersteller.

Das mag nach wenig klingen. Doch das kann sogar existenzielle Probleme lösen: Entwicklungshelfer der Hilfsorganisation Uncharted Play haben mit dieser Technik einen Strom erzeugenden Fußball namens Soccket entwickelt, den sie ab September in entlegenen afrikanischen Dörfern verschenken. Dort gibt es in der Regel kein Stromnetz – dafür aber fußballbegeisterte Kinder. Während die tagsüber mit dem Ball spielen, erzeugt dieser in seinem Inneren per Spule und Magnet Strom und speichert ihn in einem Akku. Abends schließen die Eltern den Ball an eine LED-Lampe an: Uncharted Play verspricht drei Stunden Licht nach nur 15 Minuten Kicken.

Doch die Energieerzeugung aus Bewegung hat Grenzen: Für stromhungrige Smartphones reicht die geerntete Energie nicht. Zwar testet etwa der britische Mobilfunkanbieter Orange T-Shirts aus Piezo-Folien, die sogar aus Schall genug Strom für ein Handy gewinnen sollen. Aber bis zum Start im Massenmarkt dürfte es noch Jahre dauern.

Am weitesten ist Energy Harvesting dort, wo der Schiffsarzt Julius von Mayer vor 170 Jahren dessen physikalische Grundlagen entdeckte: auf dem Meer. Vor Hawaiis Küsten hat eine U-Boot-Drohne der Nasa kürzlich in ausgiebigen Tests bewiesen, dass energieautarke Fahrzeuge möglich sind.

Das torpedoförmige Vehikel nutzt die Temperaturwechsel verschiedener Wassertiefen zur Stromerzeugung: Spezielle Phasenwechselmaterialien ziehen sich im kalten Tiefenwasser zusammen; taucht die Drohne auf, expandieren sie und komprimieren dabei ein Öl. Der Druck des Öls treibt dann einen Stromgenerator an; damit kann sich die Drohne unbegrenzt fortbewegen.

Dem uralten Traum des Perpetuum mobiles waren Forscher noch nie so nah.

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