Ernährung Die große Verschwendung

Ein Drittel aller weltweit hergestellten Lebensmittel landet im Müll, in Industrienationen sogar die Hälfte. Neue Technologien und eine bessere Aufklärung sollen die Verschwendung stoppen. Ein neues Buch zeigt mögliche Auswege.

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ARCHIV - Kartoffeln, Quelle: dpa

Klaudia Fischer kommt sich oft vor wie in einer verkehrten Welt: Die Mitarbeiterin eines Berliner Supermarkts dachte eigentlich, sie solle Lebensmittel vor allem verkaufen. Stattdessen verbringt sie viel Zeit damit, sie wegzuwerfen. Milchprodukte sortiert sie schon zwei Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums aus. Und beim Gemüse holt sie Zwiebeln, Lauch, Radieschen und Kopfsalate nach einem einzigen Verkaufstag aus dem Regal. Auch wenn sie noch einwandfrei sind.

Mehr als die Hälfte aller Lebensmittel landen in Industrienationen im Müll. Das meiste schon auf dem Weg vom Acker in den Laden, bevor es überhaupt unseren Esstisch erreicht: Jeder zweite Kopfsalat, jede zweite Kartoffel und jedes fünfte Brot werden in Deutschland weggeworfen.

Allein der Anteil originalverpackter und angebrochener Lebensmittel liegt im deutschen Haushaltsmüll bei über zehn Prozent. Jeder Konsument wirft im Schnitt 100 Kilogramm Essbares pro Jahr in den Müll. Damit liegt der Wert der jährlich weggeworfenen Lebensmittel bei 400 Euro je Haushalt. Pro Jahr ergibt das einen Müllberg von 10 bis 20 Millionen Tonnen – 500.000 Lastwagen-Ladungen voll. In eine Reihe gestellt, würden sie von Berlin bis Peking reichen. Auch weltweit erreicht die Verschwendung gigantische Ausmaße: Etwa ein Drittel aller Lebensmittel landet im Abfall – laut der Welternährungsorganisation (FAO) 1,3 Milliarden Tonnen pro Jahr.

Das ist nicht nur ökonomischer Irrsinn in einer Zeit, in der aufgrund steigender Weltbevölkerung die Lebensmittel knapper werden und in der steigende Preise für Grundnahrungsmittel wie Weizen zu blutigen Unruhen führen. Dass Lebensmittel zu Abfall werden, wirkt sich auch auf das Weltklima aus: Die Landwirtschaft verschlingt riesige Mengen Energie, Wasser, Dünger, Pestizide und Regenwaldflächen und ist damit für mehr als ein Drittel der weltweit emittierten Treibhausgase verantwortlich.

Konsumenten geben den Ton an

Der in Köln lebende Regisseur Valentin Thurn hat das Ausmaß dieser Verschwendung auf der ganzen Welt untersucht und die Frage nach den Ursachen gestellt. Dafür hat Thurn mit Supermarktmanagern, Bäckern, Großmarkt-Inspektoren, Ministern, Bauern und EU-Politikern gesprochen. Die wichtigsten Thesen der Recherchen von ihm und seinem Autorenkollegen Stefan Kreutzberger, die am 18. August unter dem Titel "Die Essensvernichter" als Buch erscheinen, druckt die WirtschaftsWoche exklusiv vorab.

Es ist ein weltweites System mit vielen Facetten und zahlreichen Mitspielern. Doch die Käufer in Industrienationen geben den Ton an: Eine immer globaler agierende Lebensmittelindustrie bedient ihre Bedürfnisse mit Vorrang.

So bleibt in Deutschland etwa die Hälfte aller Kartoffeln auf dem Acker liegen, weil sie zu groß, zu klein oder zu unegal sind für die Normvorgaben der Lebensmittelhändler, sagt Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf, Kartoffelbauer im westfälischen Spenge und ehemaliger grüner Europaabgeodneter: "Wir legen Kriterien an, die mit der Ernährungsqualität nichts zu tun haben." Auch europäische Gurken sollen gerade sein, damit sie besser in die Kisten passen. 2009 kippte die EU zwar die Vermarktungsnormen für 26 Obst- und Gemüsesorten. So darf der Rettich jetzt wieder zwei Wurzeln haben, die Karotte verzweigt gewachsen sein und die Gurke krumm. Nur: Die Supermärkte wollen sie nicht, sie halten an den alten Normen fest.

Kleine Früchte fliegen raus

Das hat Auswirkungen auf der ganzen Welt. So sortieren in Kamerun Mitarbeiter der landesweit größten Bananenplantage Plantations du Haut Penja am Fuß des Kamerunberges Früchte allein deshalb aus, weil sie den Vorstellungen der Aufkäufer nicht entsprechen. Der Chef der Plantage, Hilaire Tsimi Zoa, klagt: "Die Supermärkte und Importeure in Europa geben uns immer mehr Normen vor: die Größe der Frucht, die Länge, ja sogar die Anzahl der Bananen an einem Strunk." Acht Prozent der Bananen wandern deshalb direkt nach der Ernte auf den Müll. Weitere Verluste kommen beim Transport hinzu.

In den Großmärkten, wo die Waren an Lebensmittelhändler und Gastronomen verkauft werden, geht der Wahnsinn weiter. Dort fallen täglich gigantische Müllberge an. Etwa im Pariser Großmarkt Rungis, wo schon morgens um sechs Uhr nach Ende des Fischverkaufs Thunfische, Garnelen und Muscheln kistenweise in die Abfallcontainer gekippt werden. Kurz darauf gibt Großmarkt-Inspektor Tony Apfelbaum eine knapp neun Tonnen schwere Ladung Orangen zur Entsorgung frei. "Für den Großmarkt hier ist das nicht ungewöhnlich viel, manchmal werden noch größere Mengen auf den Müll geworfen", sagt er.

Ein Mitarbeiter eines Quelle: dapd

Aber es geht auch anders: Thurn und Kreutzberger porträtieren in ihrem Buch Menschen, die die Verschwendung zu stoppen versuchen: sogenannte Mülltaucher, die Nahrungsmittel aus den Abfallcontainern der Supermärkte retten, Verbrauchervereine, die Bauern und Kunden direkt zusammenbringen, und Initiatoren von City-Gärten, der modernen Variante des Schrebergartens.

Kleine Schritte, die dazu beitragen, dass Menschen die Wertschätzung von Nahrung neu erlernen. Würden die Industrieländer ihre Lebensmittelverschwendung nur um die Hälfte reduzieren, hätte das nach Berechnungen von Klimaforschern auf das Weltklima denselben Effekt, als ob jedes zweite Auto stillgelegt würde.

Verschenken statt wegwerfen

Der naheliegendste Gedanke, um den Abfallberg zu reduzieren: Die Händler könnten die noch essbaren Lebensmittel verschenken, statt sie wegzuwerfen. Und das passiert teilweise schon: In Deutschland sammeln 870 sogenannte Tafeln einwandfreie Lebensmittel, die sonst im Müll landen würden, und verteilen sie an sozial und wirtschaftlich Benachteiligte – kostenlos oder zu einem symbolischen Betrag. 15.000 Tonnen Lebensmittel holt allein die Berliner Tafel pro Jahr in Supermärkten und Fabriken ab. Bundesweit versorgen die gemeinnützigen Organisationen regelmäßig rund eine Million Menschen in Obdachloseneinrichtungen, Tagesheimen und Schulküchen gleichermaßen – ein Viertel davon sind Kinder und Jugendliche.

Auch auf dem Großmarkt in Rungis gibt es für Obst und Gemüse eine Sammelstelle der "Epiceries solidaires", dem Pendant der deutschen Tafeln. Ihr Leiter Arnaud Langlais berichtet stolz: "Wir haben 2009 hier auf dem Großmarkt angefangen, seitdem konnten wir 120 Tonnen Gemüse und Obst vor der Mülltonne retten." Allerdings sortieren auch seine Mitarbeiter noch einmal kräftig aus, denn die Tafel-Läden, die er beliefert, legten großen Wert darauf, dass die Auswahl genauso perfekt aussieht wie im normalen Supermarkt, so Langlais: "Sonst fühlen sich die sozial Bedürftigen ein weiteres Mal stigmatisiert."

Noch sinnvoller, als ausrangierte Lebensmittel zu verschenken, wäre es, erst gar keinen Überschuss entstehen zu lassen.

So könnten Kantinen von Schulen, Betrieben und Krankenhäusern Schüler, Mitarbeiter und Patienten auffordern, sich bereits am Vortag für ein Auswahlessen zu entscheiden. Dann könnten sie besser planen. Laut Studien landen bisher zwischen 24 und 35 Prozent der Schulmittagessen im Müll. Auch in Betriebskantinen wird etwa ein Fünftel der Nahrungsmittel verschwendet.

Mitunter haben auch Restaurants und Imbissbuden gute Ideen, um Essensreste von vornherein zu vermeiden. So sind im indischen Mumbai einige Imbissstände dazu übergegangen, ihre Preise nach 20 Uhr zu halbieren. Das garantiert ein junges Abendpublikum und bewahrt die Lebensmittel vor der Tonne. In vielen asiatischen Ländern bieten Restaurants ihre Mahlzeiten ohnehin in drei verschiedenen Größen an: S, M, L. Der Effekt: kein unnütz rausgeworfenes Geld, kein umsonst getötetes Tier. Noch radikaler ist ein nigerianisches Restaurant in London. Dort muss jeder, der seinen Teller nicht leer isst, 2,50 Pfund an die Hilfsorganisation Oxfam zahlen. Und in Chicago haben sich Restaurants zusammengeschlossen, die kleinere Portionen ausgeben und kostenfrei Nachschlag für jeden anbieten, der noch Hunger hat.

Portionen schrumpfen

Das Konzept kleinerer Portionen funktioniert sogar in Bayern im traditionsreichen "Weisses Bräuhaus" in München. Dort waren über Jahrzehnte deftige Portionen üblich, eher passend für Landarbeiter als für Stadtmenschen. "Dann haben wir die Portionsgrößen den modernen Essgewohnheiten angepasst", so Geschäftsführer Otmar Mutzenbach. Im gleichen Zug wurden die Preise auf die geringeren Mengen umgerechnet und gesenkt. Der Effekt: Bei gleicher Essenszahl müssen pro Tag zwei Spanferkel weniger geschlachtet werden. Die Essensabfälle gingen um über 30 Prozent zurück und bescherten dem Brauhaus geringere Entsorgungskosten.

Roland Schüren, Bäckermeister aus Hilden bei Düsseldorf, geht einen anderen Weg. Auch er beobachtet, wie der Abfallberg immer größer wird: "In den Siebzigerjahren gab es vielleicht zehn Brot- und fünf Brötchensorten. Heute haben wir 60 Brot- und ungefähr 30 Brötchensorten. Diese Auswahl wird vom Verbraucher erwartet", sagt der Bäcker. Aber das mache es unglaublich schwierig, die Mengen zu kalkulieren.

Zum Themendienst-Bericht Quelle: gms

"Es gibt Bäckereien, die schmeißen 20 Prozent ihrer Ware weg", sagt Schüren. Das sei zu viel, findet er – und steuert in seinen 14 Filialen gezielt gegen, indem er das Angebot abends verkleinert. Viele Kunden sehen das jedoch nicht gern und gehen dann woanders einkaufen. So mancher ‧Bäcker würde mit Schürens Strategie sogar vertrags‧brüchig. Vor allem Supermärkte machten den Mietern ihrer Backshops strikte Vorgaben: "Volles Brotregal bis 18.30 Uhr" stehe oft im Mietvertrag. Schüren hat selbst schon böse Briefe mit Beweisfotos und Kündigungsandrohung bekommen, "als das Brotregal unseres Backshops mal relativ gerupft aussah".

Seither betreibt Schüren nur noch eigene Filialen und bietet seinen Kunden das Brot vom Vortag verbilligt an. So schafft er es, nur noch knapp zehn Prozent seiner Tagesproduktion wegwerfen zu müssen – doch das sind immer noch gut 100 Tonnen pro Monat. Einen Teil davon spendet Schüren an die Tafel, die es an Bedürftige verteilt. Der Rest kommt in große Container, und die landen in einer Tierfutterfabrik. All das, was noch nicht vom Menschen berührt wurde und kein Fleisch enthält, darf zu Tierfutter gemacht werden.

Geld bekommt der Bäcker dafür nicht. Denn anders als die Biogasanlagen, die auch Lebensmittelabfälle verwerten, bekommt der Tierfutterhersteller keine Subventionen. Die Situation ließ dem umtriebigen Bäcker keine Ruhe, bis sein Energieberater ihn auf eine Idee brachte. Er fragte ihn, wie viel Altbrot in dem Container sei. "4,5 Tonnen", antwortete Schüren. "Dann verschenken Sie gerade den Heizwert von 900 Liter Heizöl", erklärte der Berater. Denn Brot hat nahezu den gleichen Heizwert wie Holz.

Schlechte Lagerung von Lebensmitteln

Brot unter die Holzpellets zu mischen, um damit die Backöfen zu befeuern – das hatte noch kein anderer Bäcker gewagt. Doch eine energetische Nutzung sei besser als gar keine, meint Schüren, der behauptet: "Wenn alle Bäckereien in Deutschland es ähnlich machen würden, könnte ein Atomkraftwerk eingespart werden."

Die Zahl ist gar nicht so weit hergeholt, denn jedes Jahr werden etwa 500.000 Tonnen Brot in Deutschland weggeworfen. Von dieser Menge könnte ganz Niedersachsen mit Brot versorgt werden.

Angesichts solcher Zahlen fordert die FAO, die weltweiten Verluste und die Verschwendung von Essbarem in den nächsten 15 Jahren um die Hälfte zu reduzieren. In einer aktuellen Studie fand sie allerdings heraus, dass die Gründe für die Verluste sehr unterschiedlich sind: In Entwicklungsländern werden 40 Prozent des Lebensmittelausschusses durch schlechte Lagerungs- und Verarbeitungsbedingungen verursacht. In den Industrienationen schmeißen dagegen Händler und Verbraucher 40 Prozent der Lebensmittel weg.

Silos halten frisch

Auf dem langen Weg vom Acker bis zum Teller können vor allem in Entwicklungsländern bessere Techniken die Verluste direkt nach der Ernte verringern. So haben Ingenieure im Rahmen eines FAO-Projektes in 16 Ländern mehr als 45.000 Silos aus Metall zur Lagerung von Lebensmitteln aufgebaut, sie haben zudem gut 1500 Menschen darin ausgebildet, solche Silos herzustellen und zu warten. Die Bauern profitierten von längeren Lagerzeiten und damit höherem Einkommen. Die Silos konnten die Nachernteverluste von 15 bis 20 Prozent auf weniger als ein Prozent reduzieren. Auch das Trocknen von Früchten und Nüssen in der Sonne oder mit Solartrocknern ist eine einfache, aber gute Konservierungsmethode.

Länger haltbar bleiben auch solche Lebensmittel, die verpackt werden, etwa in Plastik oder Aluminium. Denn die Verpackung schützt vor Keimen, Austrocknung, Ungeziefer oder Transportschäden. Doch in Entwicklungsländern fehlt es oftmals an simpelstem Packmaterial, um Früchte ohne Druckstellen zum Markt zu transportieren oder Getreide vor Schimmelpilzen oder Mehlwürmern zu bewahren.

Deshalb fördert die Weltbank die Einrichtung von Verpackungshäusern in Westafrika, in denen die Ernte nach Qualität sortiert und für die Vermarktung in Folien und Tüten verpackt wird. So können Bauern die Ernte länger lagern und müssen sie nicht sofort verkaufen, wenn die Preise niedrig sind.

Der Verpackungsmaschinenbauer Multivac Sepp Haggenmüller aus Wolfertschwenden hat Fischerdörfern in Afrika dafür kleine, leicht zu handhabende Verpackungsmaschinen gespendet. Die Technik verhindert, dass ein Großteil des Fangs verdirbt – und die Fischer verdienen mehr.

Bosch Packaging Technology, die Verpackungsmaschinensparte des Weltkonzerns aus Stuttgart, ist ebenfalls dabei, sich auf die Bedürfnisse von Entwicklungsländern einzustellen. So hat Bosch in Südindien kleine und handliche Verpackungsmaschinen auf Laster montiert, die zur Erntezeit von Dorf zu Dorf fahren. Die Bauern können mit ihren frisch geernteten Produkten zum Lkw kommen und sie einschweißen lassen.

Oftmals ist es aber gar nicht die fehlende Technik, sondern Unkenntnis, die zu hohen Verlusten führt, und das nicht nur in Entwicklungsländern, sondern überall.

Gerade Bewohnern von Industrieländern fehlt oft das Wissen darüber, wie Lebensmittel am besten aufbewahrt werden. Etwa, dass Äpfel nicht in der Nähe von andern Obstsorten gelagert werden sollen, weil sie das Gas Äthylen ausdünsten, das Obst schneller reifen lässt. Stellt man die Apfelkiste dagegen wie früher üblich im Keller neben die Kartoffeln, verhindert das Äthylen, dass die Knollen austreiben. So bleiben sie länger haltbar.

Haltbarkeitsdatum verwirrt

Allerdings sind viele der Angaben auf Lebensmitteln alles andere als hilfreich. Vor allem das Mindesthaltbarkeitsdatum auf verpackten Lebensmitteln sorgt für Verwirrung in Haushalten und dafür, dass viele Produkte in den Mülleimer wandern, obwohl sie noch einwandfrei genießbar sind. Denn an sich geht es dabei gar nicht um die Haltbarkeit, sondern um eine Gütegarantie: Bis zum genannten Datum garantieren die Hersteller eine bestimmte Produktqualität – dass ein Joghurt noch so cremig ist wie in der Fabrik, zum Beispiel. Wenn das Datum abgelaufen ist, heißt es also keineswegs, dass die Ware ungenießbar ist.

Hier hätten Politiker es in der Hand, einen treffenderen Begriff zu finden, etwa den im Englischen verwendeten Ausdruck "best before" oder ein entsprechendes deutsches Synonym. Denn tatsächlich hat die Politik bisher keinerlei Einfluss darauf, nach welchen Kriterien die Unternehmen die Daten auf die Packungen drucken.

Dass die Hersteller die Mindesthaltbarkeitsdaten dagegen immer mehr verkürzen, darüber ärgert sich Thomas Pocher schon lange. Der junge Marktleiter führt in Templeuve nahe der nordfranzösischen Großstadt Lille einen Hypermarché der Leclerc-Kette und engagiert sich für nachhaltiges Wachstum. Pocher sagt: "Früher hat eine Flasche Mineralwasser anderthalb Jahre gehalten, heute ist das Datum bereits nach sechs Monaten abgelaufen."

Die Jumbo-Supermarktkette in den Niederlanden hatte kürzlich dazu eine geniale Idee: Kunden, die ein Produkt mit einer Ablauffrist von unter zwei Tagen im Regal entdecken, dürfen ihren Fund umsonst mitnehmen. Ein origineller Einfall, der die Optik umdreht: Die Kunden suchen nicht mehr nach Produkten mit möglichst langem Haltbarkeitsdatum, sondern sie machen es sich zum Sport, Lebensmittel mitzunehmen, die sonst mit großer Wahrscheinlichkeit vernichtet worden wären.

This Thursday, Aug. 4, 2011 Quelle: dapd

In Deutschland sind solche Ideen noch nicht verbreitet. Einige Supermärkte reduzieren immerhin die Preise für Waren kurz vor Ablauf oder mit leichten Beschädigungen. Die meisten Händler aber scheuen dies, weil sie befürchten, sich damit die Preise kaputt zu machen.

Abhilfe bei der Datenkonfusion könnten sogenannte sensorische Frische-Label schaffen, die gerade erforscht werden. Etwa an der Fraunhofer-Einrichtung für Modulare Festkörper-Technologien in München. Deren Mitarbeiter haben eine in die Packung integrierte Sensorfolie entwickelt, die vor verdorbenen Speisen warnt. Der Indikatorstoff in der Folie reagiert auf Stoffe, die sich bilden, wenn die Zersetzung von Lebensmitteln beginnt. Die Farbe der kostengünstigen Sensorfolie wechselt dann von Gelb zu Blau. "Die Information der Sensorfolie beruht im Gegensatz zum Mindesthaltbarkeitsdatum nicht auf einer Schätzung, sondern auf der tatsächlichen Kontrolle des Lebensmittels", betont Forscherin Anna Hezinger.

Das wäre auch hilfreich, um festzustellen, ob ein Lebensmittel vorzeitig schlecht geworden ist, weil die Kühlkette unterbrochen war. Um Lebensmittel wie Fleisch, Fisch oder Milchprodukte auf ihrem oft langen Weg zum Verbraucher frisch zu halten, ist eine permanente Kühlung wichtig. 35 Prozent solcher leicht verderblichen Lebensmittel landen weltweit wegen mangelhafter Kühlung auf dem Müll.

Verderbender Kühlschrank

Am Institut für Druckmaschinen und Druckverfahren der TU Darmstadt wurde inzwischen auch ein RFID-Funk-Etikett mit einem Sensor versehen, der Unterbrechungen in der Kühlkette registriert. So können eventuelle Kühlungsunterbrechungen schnell bemerkt werden.

Nicht für jedes Lebensmittel ist die frostige Kälte des Kühlschranks jedoch der beste Aufbewahrungsort, sagt die in Amsterdam lebende koreanische Designerin Jihyun Ryou. Einige Gemüsesorten verderben im Kühlschrank deutlich schneller als draußen. Bei Zucchini und Auberginen etwa erfriert bei unter acht Grad Celsius die Haut und sie bekommen faulige Stellen. Auch Gurken oder Tomaten halten besser ohne Kühlung.

Ryou machte daraus ein Kunstprojekt mit dem Titel "Save food from the fridge" (rettet das Essen aus dem Kühlschrank). Seither steckt sie Karotten, die sonst achtlos in der unteren Schublade des Kühlschranks landen, aufrecht stehend in Hängeregale mit feuchtem Sand und Glasfront, ebenso Lauch. Die Idee stammte von den Bauern, die sie besucht hatte. Sie hielten so das Gemüse für viele Wochen frisch.

Sinnlose Gewohnheiten

Auch für Eier hat der Kühlschrank einen Nachteil: "Sie nehmen den Geruch an, der sie umgibt." Ryou hat deshalb ein eigenes Eierregal entworfen. Und weil kaum jemand weiß, wie lange Eier eigentlich nach dem Legedatum halten, hat sie es mit einen kleinen Wasserbehälter ausgestattet. Hier lässt sich die Frische der Eier testen: Sind sie noch gut, sinken sie zu Boden, schwimmen sie an der Wasseroberfläche, empfiehlt Ryou, sie nicht roh zu essen, sondern sie zu braten oder hart zu kochen.

Im Moment schreibt Ryou an einem Buch über ihre Recherchen bei holländischen, italienischen und koreanischen Bauern. Denn sie weiß, dass sich in unseren Küchen Gewohnheiten etabliert haben, die völlig sinnlos sind, etwa die Eier in den Kühlschrank zu legen. Wenn sie Menschen fragte, warum sie das tun, bekam sie stets zur Antwort: "Weil es dort einen Platz für die Eier gibt." 

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