Ernährung Japan als Vorbild gegen Fettleibigkeit

Weltweit steigt die Zahl der Dicken, und die werden zunehmend zum Risiko für die Gesundheitssysteme. Denn Folgeerkrankungen kosten die Gesellschaft Milliardensummen. Japan ergreift nun als erstes Industrieland drastische Maßnahmen gegen Fettleibigkeit und verordnet Sport und Diäten. Ein Modell für Deutschland?

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Fitness per Spielekonsole Quelle: obs

Das abendliche Bier ist tabu, die tägliche Reisportion halbiert, Hamburger, Hotdogs oder Fritten gestrichen. Seit Minoru Nogiri das Datum kennt, zu dem er in seiner Gemeinde zum Pflichtwiegen antreten muss, arbeitet der 45-jährige Inhaber eines Blumenladens in der mitteljapanischen Industriestadt Amagasaki verbissen an der Reduzierung seines Körpergewichts. Jeden Morgen rennt Nogiri mindestens 20 Minuten am Meer entlang, verkneift sich danach das geliebte Toastbrot und frühstückt stattdessen Misosuppe und gegrillten Fisch mit Gemüse.

Kommende Woche ist es soweit. Dann testet ein Medizinerteam Nogiris körperliche Fitness: Blutwerte, Gewicht, Fett-, Wasser- und Muskelanteil im Gewebe – alles wird gründlich erfasst. Großen Bammel hat der Geschäftsmann aber vor allem vor der Messung seines Bauchumfangs. Denn das staatlich verordnete Limit ist streng: Männer, bei denen das Maßband mehr als 85 Zentimeter anzeigt, gelten als dick. Bei Frauen geht ein Bauchumfang von 90 Zentimetern noch durch.

Dieser Gesundheitstest ist seit vergangenem April in allen Großbetrieben und Kommunen Japans Pflicht. 56 Millionen Menschen im Alter zwischen 40 und 74 Jahren, rund 44 Prozent der Bevölkerung, müssen sich einmal im Jahr medizinisch checken lassen. Die Gesundheitsprüfer kontrollieren, wer zu viele Kilos auf die Waage bringt, oder erhöhte Werte bei Blutzucker, Blutdruck und Blutfetten aufweist. Bereits zwei gerissene Grenzwerte gelten als gesundheitsgefährdend.

Japan ergreift drastische Maßnahmen gegen Fettleibigkeit

Als erstes Industrieland ergreift Japan drastische Maßnahmen, um die grassierende Fettleibigkeit zu bekämpfen. Damit die Aktion Wirkung erzielt, droht die Regierung zwar nicht dem Einzelnen, wohl aber Unternehmen und Kommunen mit Sanktionen: Sind ihre Angestellten beim Kampf gegen die Pfunde nicht erfolgreich, müssen die Betriebe höhere Beiträge in die neue nationale Krankenversicherung einzahlen. Der Tokioter Elektronikriese NEC etwa hat ausgerechnet, wie viel ihn die Nichteinhaltung der Auflagen kosten könnte. Heraus kam eine Summe von umgerechnet mehr als zwölf Millionen Euro im Jahr.

Überall auf der Welt sind die Regierungen alarmiert. Die Zahl der stark übergewichtigen, fettleibigen Bürger steigt unaufhaltsam – und mit ihr klettern die Kosten für die Bekämpfung von Folgekrankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes, Krebs, Herzinfarkten und Schlaganfällen. In den USA, wo die Superdicken schon ein Drittel der Bevölkerung stellen, haben Forscher in den Bundesbehörden dramatische Werte hochgerechnet. Ändert sich nichts, steigen die verfettungsbedingten Zusatzkosten bis 2030 auf eine knappe Billion Dollar. Das wären 17 Prozent des US-Gesundheitsbudgets.

In Europa steht Deutschland an der Spitze der Statistik: 37 Millionen Erwachsene, rund 53 Prozent der Frauen und 67 Prozent der Männer haben nach den Erhebungen des Bundesgesundheitsministerium von 2007 zu viel Speck auf den Rippen. Bei rund neun Millionen Menschen überschreitet der Body-Mass-Index – die Relation von Körpergröße und Gewicht – den Grenzwert von 30. Sie leiden damit nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation unter krankhafter Fettsucht (Adipositas).

Die Folgen der Mast sind verheerend, für den Einzelnen wie für das Gesundheitssystem. Neueste Untersuchungen zeigen das immer klarer: Männer mit dicken Bauch haben beispielsweise ein um fast die Hälfte erhöhtes Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken. Das hat eine der weltweit größten Langzeitstudien namens EPIC (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition) ergeben, die europaweit seit 1992 die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Krebs und Diabetes untersucht. An der Studie sind zehn europäische Länder mit mehr als einer halben Million Teilnehmern beteiligt. Den Zusammenhang zwischen Prostatakrebs und Bauchfett fand das Deutsche Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke (Dife).

Zwar sind die genauen Ursachen für Prostatakrebs noch wenig erforscht, doch die Wissenschaftler des Dife vermuten, dass das Bauchfett die Produktion der Androgene, der männlichen Geschlechtshormone, anheizt. Androgene steuern Wachstum und Reifung der Prostata.

Übergewicht als Quelle: gms

Die gleiche Studie zeigt auch, dass Frauen, die viel Wurst, Butter oder andere tierische Fette essen und wenig Brot und Fruchtsäfte zu sich nehmen, in einem Zeitraum von sechs Jahren doppelt so oft an Brustkrebs erkrankten wie die Vergleichsgruppe, die sich fettärmer ernährten. Noch tappen die Forscher im Dunkeln, wie sie das Phänomen wissenschaftlich erklären sollen. Weitere Studien sollen in den nächsten Monaten zeigen, ob bestimmte Fettsäuren für den Brustkrebs verantwortlich sind.

Aber auch die finanziellen Folgen sind immens. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt beziffert die Folgekosten des Übergewichts für das deutsche Gesundheitssystem auf jährlich 70 Milliarden Euro. Sie setzt auf Werbekampagnen und die Einsicht der Menschen. Den Verbraucherschützern von foodwatch reicht Schmidts Initiative dennoch bei Weitem nicht. „Damit lösen wir das Problem des Übergewichts nicht“, kritisiert Thilo Bode, der Geschäftsführer von foodwatch. Bode kämpft stattdessen beispielsweise für eine einfache Kennzeichnung der Inhaltsstoffe von Lebensmitteln nach dem Vorbild der sogenannten Ampel, wie sie in Großbritannien eingeführt wurde. Dort kennzeichnen rote, gelbe und grüne Punkte oder Streifen den Gehalt der Lebensmittel an Fett, gesättigten Fettsäuren, Salz und Zucker. Das System soll heimliche Dickmacher entlarven. Zum Beispiel Kinderdrinks, die als gesunde Durstlöscher beworben werden, obwohl sie hohe Konzentrationen von Zucker enthalten.

Für die Lebensmittelindustrie ist die Ampel jedoch Teufelswerk – der Verbraucher könnte den Eindruck gewinnen, es gäbe tatsächlich schlechte Lebensmittel. Sie setzt stattdessen auf eine freiwillige Nahrungskennzeichnung.Dabei sind die Erfahrungen der britischen Food Standards Agency (FSA), die das System in Großbritannien vor zwei Jahren auf freiwilliger Basis eingeführt hat, durchaus positiv. Nicht nur Verbraucherschutz- und Gesundheitsorganisationen schätzen das einfache System. In Umfragen sprachen sich auch 90 Prozent der Konsumenten für die leicht verständliche Ampel aus. Eine Handelskette ließ unter dem Druck des Kennzeichnungssystems die Rezepturen ihrer Eigenmarken überarbeiten.

Panasonic: Täglich 10.000 Schritte gegen Fettleibigkeit

Trotzdem zaudert die deutsche Regierung noch, setzt auf Einsicht und Freiwilligkeit: „Wir wollen nicht bevormunden und niemanden diskriminieren. Jeder soll leben, wie er es für richtig hält“, findet Gesundheitsministerin Schmidt. Andere Länder greifen zu drastischen Maßnahmen gegen die grassierende Fettleibigkeit. Frankreich plant eine Sondersteuer auf Dickmacher wie Cola, Kartoffelchips und Hamburger. England will den Eltern übergewichtiger Schulkinder künftig Mahnbriefe schicken. Kalifornien hat Schokoriegel und zuckerhaltige Softdrinks aus den Verkaufsautomaten an Schulen verbannt. Und der Stadtrat von Los Angeles hat Fast-Food-Ketten untersagt, in Gegenden mit besonders viel Dicken neue Lokale zu eröffnen.

Doch niemand geht so strikt vor, wie die japanische Regierung. Dabei ist der Anteil der extrem Dicken in Nippon mit einem Bevölkerungsanteil von 2,3 Prozent bei den Männern und 3,4 Prozent bei den Frauen einer der niedrigsten auf der Welt. Aber die Zahl der Dicken hat zuletzt stark zugenommen. Rund 30 Prozent der Japaner im Alter zwischen 20 und 60 Jahren und jeder zehnte Schüler haben zu viel Fett auf den Rippen. Ziel der Regierung ist es, die Zahl der Gewichtssünder in den kommenden vier Jahren um zehn und bis zum Jahr 2015 um 25 Prozent zu reduzieren.

Von den großen Unternehmen des Landes wird die Initiative mitgetragen. Japans größter Elektronikhersteller Panasonic hat sogar ein eigenes Gesundheitsprogramm draufgesattelt. „Der Lebensstil unserer Menschen hat sich sehr verändert“, argumentiert Betriebsarzt Yoshikuni Sakamoto. „Sie essen fetter, mehr Fleisch und sie bewegen sich weniger, das erhöht das Gewicht.“

Alle Panasonic-Mitarbeiter müssen sich seitdem regelmäßigen Gesundheits- und Gewichtskontrollen unterziehen. Schneiden sie dabei schlecht ab, werden sie in Gesprächen zu einer Änderung ihrer Angewohnheiten aufgefordert. „Zwei Schokokekse täglich addieren sich in drei Jahren auf elf Kilogramm Gewichtszunahme“, rechnet Sakamoto ihnen beispielsweise vor. Für die Sünder gibt es einen Schrittzähler und die Mahnung, täglich wenigsten 10 000 Schritte zu gehen. Damit sich jeder Mitarbeiter gesund ernähren kann, bieten die Kantinen Menüs mit viel Gemüse, Sojaprodukten und Vollkornreis an.

Wurst mit Pommes: 37 Millionen Quelle: AP

Wer sich den Abnehmritualen verweigert, wird schnell zum Außenseiter. Toyota-Pressechef Paul Nolasco etwa hat deshalb in den zurückliegenden neun Monaten 30 Kilogramm abgenommen. „Ich habe eingesehen, dass ich mit rund 100 Kilogramm einfach zu fett war“, sagt er reumütig. „Es gab zwar keinen Zwang“, versichert Nolasco, aber an dem Thema komme man in der ganzen Firma nicht mehr vorbei. „Überall hängen Plakate mit Angaben zu Idealmaßen sowie mit Sport- und Ernährungstipps. Jeden Tag werden wir per E-Mail aufgefordert, das Gewicht zu beobachten, abzunehmen und die körperliche Fitness zu erhöhen.“

Toyota sieht sich sogar genau an, wie viele Kalorien, Kohlenhydrate und Proteine, wie viel Fett und Salz jeder Mitarbeiter mittags in der Kantine zu sich nimmt – die Kasse bucht die Daten beim Bezahlen auf den elektronischen Betriebsausweis. Vorbildliches Verhalten wird mit Gesundheitspunkten belohnt, die gegen eine Waage oder ein Fitnessgerät eingelöst werden können.

Andere Unternehmen haben sich der Bewegung angeschlossen. So erklärte kürzlich die Fluggesellschaft ANA rund 3000 männliche Mitarbeiter für zu dick. Ihnen wurden gymnastische Übungen und ein Diätplan empfohlen.

In Japan müssen dicke Polizisten zu Fuß oder per Fahrrad auf Streife gehen

Die Deutschen würden wohl solche Eingriffe ins Privatleben kaum akzeptieren. Dennoch plädiert der Ernährungsmediziner und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Adipositas, Manfred Müller, aus eigener Erfahrung für mehr Verbindlichkeit: „Eine Politik, die ausschließlich auf Eigenverantwortung setzt, wird dem gesellschaftlichen Problem Übergewicht nicht gerecht.“

Der Mediziner Michael Stimpel kann dies bestätigen. Mit Unterstützung des saarländischen Gesundheitsministeriums, der Stadt Püttlingen im Süden des Saarlandes und der deutschen Klinik für Naturheilkunde und Präventivmedizin bietet er in Püttlingen seit Mitte 2007 Eltern übergewichtiger Kinder ein kostenloses Coaching über einen Zeitraum von zwei Jahren an. Doch nicht einmal 20 Prozent der angesprochenen Eltern nahmen das Angebot an. Viele glauben: „Der Babyspeck wächst sich aus, wenn die Kinder älter werden.“ Doch das, sagt Stimpel, ist ein Irrtum. Amerikanische Untersuchungen haben gezeigt, dass zehnjährige fettsüchtige Kinder bereits ein Gefäßsystem haben, das dem von 45-Jährigen entspricht. Stimpel befürchtet, dass die Kinder beispielsweise ein erhöhtes Herzinfarkt- oder Diabetesrisiko haben und viel früher aus dem Arbeitsleben ausscheiden werden.

Sollte sich Deutschland also lieber ein Beispiel an Japan nehmen? Ernährungsaufklärung basierte hierzulande bisher auf der Idee, dass vernünftige Botschaften an vernünftige Menschen Wirkung erzielen. „Doch das Prinzip funktioniert im Ernährungsbereich nicht“, hat der Göttinger Ernährungspsychologe und Erfinder der „AOK-Pfundskur“, Volker Pudel, beobachtet. „Das Einzige, was Ernährungsaufklärung bewirkt hat, ist, dass wir bei jeder Tafel Schokolade ein schlechtes Gewissen haben“, spottet Pudel.

Statt auf ein schlechtes Gewissen setzen die Japaner auf gesellschaftlichen Druck – und klare Formen der Motivationsförderung. So werden in der mitteljapanischen Gunma-Präfektur die Dienstpläne der Polizisten neuerdings gewichtsabhängig gestaltet. Dicke Polizisten müssen zu Fuß oder per Fahrrad auf Streife gehen, die Kollegen mit Idealgewicht dürfen im Auto fahren.

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