Ernährung Pommes frites aus dem Ultraschallbad

Was passiert im Steak, wenn es brät? Ein Physiker hat sich darangemacht, die Vorgänge beim Kochen zu erforschen und zu fotografieren. Nathan Myhrvold räumt in seinem kiloschweren Mammutwerk mit manch lieb gewonnenen Traditionen auf.

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Nathan Myhrvold hat viele Ideen. Eine ist es, Mücken, die Malaria weitergeben, mit Lasern zu beschießen. Die Mücke wird erkannt und erlegt vom sogenannten „Electronic Fence“, für das sein Unternehmen ein Patent angemeldet hat. Eine andere Idee ist es, die Energieprobleme unserer Welt mit Atomkraftwerken zu lindern, die abgereichertes Uran verarbeiten, das in herkömmlichen Atomkraftwerken kostengünstig als Abfall anfällt. Bis das so weit ist, muss sich der Physiker, ehemalige Chief Technology Officer von Microsoft und Gründer und CEO von Intellectual Ventures aus Seattle, damit begnügen, dem Geheimnis des saftigsten Steaks und der perfekten Einschubhöhe für Pizza auf die Schliche gekommen zu sein.

Damit hat er Licht in ein Thema gebracht, dass die Wissenschaft gemeinhin stiefmütterlich behandelt: Kochen. Der britische Tieftemperaturphysiker und Hobbykoch Nicholas Kurti servierte 1969 der Royal Society ein Omelette Surprise, das im Gegensatz zur traditionellen Art außen kalt und innen heiß ist.

Versuch und Irrtum

Er nutzte eine Mikrowelle, um das Innere zu erwärmen. Mit derlei Experimenten rief er die Gattung der Gastrophysics ins Leben, einen Vorläufer der Molekularküche, die in den Neunzigerjahren von dem Schweizer Hervé This begründet wurde und durch Köche wie Ferran Adria oder Heston Blumenthal in ihren Restaurants den Gästen schmackhaft gemacht wurde. Kurti war dennoch unzufrieden mit den Forschungsergebnissen zu Vorgängen, die beim Kochen rohe, teils ungenießbare Zutaten in gegarte, leicht bekömmliche Kostbarkeiten verwandelten. „Es ist absurd, dass wir über die Temperatur im Zentrum der Sonne mehr wissen als über jene im Inneren eines Soufflés“, sagte Kurti.

Jahrhundertelang schmorten, grillten, dämpften und kühlten Köche in aller Welt nach den Methoden, die sie entweder von ihren Lehrherren übernommen hatten oder die sie selber entwickelten – oftmals mehr im Stil von Versuch und Irrtum.

Keine Tricks

In den vergangenen Jahren, ausgelöst durch die Erfolge Adrias, beschäftigten sich zunehmend mehr Köche mit den Grundlagen ihrer Disziplin, um innovativere Gerichte servieren zu können. Doch selten haben sie die Möglichkeit, ganze Versuchsanordnungen und Probenreihen durchzuführen. „Die Forschung für neue Produkte besorgt im Prinzip nur die Lebensmittelindustrie“, sagt Myhrvold, der vergangene Woche in Mainz, vor einem rappelvollen Hörsaal des Max-Planck-Instituts für Polymerforschung, die wesentlichen Entdeckungen seiner sechsjährigen Arbeit über die physikalischen Geheimnisse der Kochkunst präsentierte.

Sie wiegen schwer. Das beginnt schon bei der Präsentation. 17,8 Kilogramm wiegen die fünf Bände plus Rezeptbuch, die Myhrvold im Frühjahr in Amerika präsentierte und deren deutsche Fassung im November unter dem Titel „Modernist Cuisine“ erscheinen wird. Mehr als zwei Kilogramm wiegt allein die Tinte, die in dem Mammutwerk verdruckt wurde, für das sein Team mehr als 147000 Fotos geschossen hat. Fische wurden skelettiert, Gemüse im Erdreich halbiert, Zellen unterm Elektronenmikroskop betrachtet, Woks mit Inhalt wild geschüttelt und so ziemlich jedes Kochgerät aufgeschnitten. Myhrvold saute in der Laborküche in Seattle, die einen Teil der Werkhalle seines Unternehmens Intellectual Ventures belegt, hemmungslos rum. „Die Bilder sind keine Tricksereien.“ Glühende Kohle fiel auf den Boden, mit einem Geschoss gelöcherte Eier zerplatzten. Lediglich bei Flüssigkeiten wurde vor die halbierten Töpfe eine Glasscheibe geklebt, um sichtbar zu machen, was im Inneren geschieht.

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Erste Hinweise, dass Kochen auch mit Technik zu tun hat, finden sich in den Schriften des römischen Feinschmeckers Apicius (25 v. Chr.–42 n. Chr.), der sich mit den Anforderungen für das Herstellen einer Brühe auseinandersetzte. Aufzeichnungen aus dem 18. Jahrhundert zeigen, dass Chemiker und Physiker begannen, sich für die Vorgänge im Topf zu interessieren: Sir Benjamin Thompson, der Count Rumford, widmete diesen Prozessen wissenschaftliche Studien, ersann einen Apparat zur besseren Zubereitung von Kaffee und räsonierte über die richtige Konstruktion der damals üblichen offenen Feuerstellen in der Küche. Vieles jedoch glich einem Stochern im Rauch, bevor Ende des 20. Jahrhunderts Wissenschaftler sich exklusiv in ihren Laboren mit den Geheimnissen zwischen Eis und Dampf befassten. Auch Myhrvold ist Seiteneinsteiger, entdeckte mit neun Jahren seine Liebe zum Kochen und setzte gleich beim ersten Dinner seines Lebens die Tischdecke in Brand. Nach seiner Zeit bei Microsoft holte er Fachkenntnisse bei einer Ausbildung in einer Kochschule nach und experimentierte dann eine Weile allein vor sich hin.

Überholte Tradition

Dann bildete er ein Team mit den Köchen Chris Young und Maxime Billet, die beide bei Sternekoch Heston Blumenthal aus England arbeiteten. Mit Rotationsverdampfern, Mixern, hochsensiblen Thermometern, Mikroskopen, Vakuumiergeräten, flüssigem Stickstoff, Membranpumpen, Zentrifugen, Ultraschall-Homogenisatoren beschäftigte Myhrvolds Truppe nur eine Frage: Warum funktionieren Rezepte?

Durch minutiös protokollierte Versuchsreihen kam Myhrvold zu Erkenntnissen, die belegten, dass seit Jahrhunderten tradierte Zubereitungen teilweise falsch sind. Möglichst klein geschnittene Zutaten wie Fleisch, Möhren, Sellerie und Lauch ergeben im Schnellkochtopf eine Brühe, die dem 1855 von dem deutschen Physiker Adolf Fick entdeckten Gesetz der Diffusion widersprechen, das den Mechanismus beschreibt, nach dem sich Moleküle, seien sie von Parfüm in der Luft oder eben Karottenwürfeln im Wasser, verbreiten: Die übliche Praxis, die Fonds aus Knochen, Fleisch und Gemüse für Stunden auf dem Herd offen köcheln zu lassen, sei weniger zielführend als die Zubereitung im Schnellkochtopf.

In die Zukunft schauen

Ähnliche Experimente durchlief ein klassisches Steak. Mittels Temperaturmessungen fand Myhrvolds Team den Beleg dafür, dass es sinnvoller sei, das Bratgut im Rhythmus von 15 Sekunden zu wenden, statt es mehrere Minuten von jeder Seite zu garen. Die Temperaturkurve im Inneren des häufig gewendeten Fleisches verlaufe ebenmäßiger und führe so zu einem zarteren Ergebnis.

Nicht alle seine Erkenntnisse lassen sich selbst von sehr ambitionierten Hobbyköchen umsetzen, die bereit sind, mehrere Tausend Euro in das nötige Equipment zu investieren (siehe Kasten). So fand Myhrvold heraus, dass die Perforation der äußeren Schicht von Kartoffelstangen in einem Ultraschallbad die optimale Vorbereitung ist, um anschließend im heißen Fett besonders knusprige Pommes zu frittieren. Für den auf den ersten Blick profanen Hamburger schlägt er gar ein Verfahren vor, das gleich mehrere Techniken der Molekularküche miteinander verknüpft: Erst wird das Fleisch im Vakuumbeutel bei niedrigen Temperaturen gegart, schließlich die äußere Schicht in flüssigem Stickstoff bei minus 190 Grad Celsius schlagartig eingefroren, bevor der Tiefkühlklops in der Fritteuse die Röstnoten erhält.

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Bei etlichen Zubereitungsarten bleibt kaum ein Stein auf dem anderen, andere Grundpfeiler der Kochkunst wiederum werden durch Myhrvolds Untersuchungen bestätigt. Aber darum geht es ihm nicht in erster Linie. Im Gegenteil. Myhrvolds Blick ist in die Zukunft gerichtet, den Titel „Modernist Cuisine“ hat er mit Bedacht gewählt. Es liegt ihm daran, allen Interessierten die nötigen Grundlagen mitzugeben, um selber kreativ zu werden. Die Tabellen mit grammgenauen Angaben zu allen Zubereitungen sollen zum einen die Erfahrung ersetzen, die sonst mühsam von Eltern auf ihre Kinder oder von Lehrmeistern auf Lehrlinge weitergegeben werden, zum anderen neugierige Köche in die Lage versetzen, Kreativität zu planen, statt mit ihr zu experimentieren. Ein Spaß, den sich angesichts des Preises von 399 Euro, für den das Kompendium in Deutschland im Taschen-Verlag erscheint, wohl nur die wenigsten Menschen gönnen. „Ich habe das Buch nicht gemacht, um damit Geld zu verdienen“, sagt Myhrvold. Dass in den USA, wo das Buch bereits im Frühjahr in den Handel kam, 6000 Stück verkauft wurden, ist sicher ein Erfolg, wie viel der Kosten, über deren Höhe er sich ausschweigt, damit gedeckt sind, kann man nur rätseln.

Doppelmoral

Mancher Leser wird sich an Myhrvolds recht unbefangener Verwendung von Lebensmittelzusatzstoffen stören, ebenso wie Weinkenner an seinem Tipp, Rotweine, statt zu dekantieren, einfach im Standmixer mit der nötigen Luft zu versehen. Mittel zum Gelieren oder Eindicken, wie sie in der Lebensmittelindustrie verwendet werden, sind für ihn sogar bewährte Produkte. „Diese Stoffe sind viel öfter getestet worden als natürliche Zutaten. Sie sind sicher“, sagt der Physiker, der den Begriff „natürliches Essen“ nur mit einer Grillzange anfassen mag. „Nudeln – ein verarbeitetes Produkt.“  Wer nicht gerade sein Gemüse roh essen will, bewegt sich im Moment des Kochens bereits fort vom naturreinen Pfad. „Den Menschen ist unwohl bei dem Gedanken an Zusatzstoffen in ihrem Joghurt, sie machen sich aber keine Gedanken über das Backpulver in ihrem Kuchen“, beschwert er sich über die doppelte Moral vieler Käufer.

Butter auf' s Brot!

Welche Art von Ernährung gesünder sei als andere, ist für Myhrvold noch nicht endgültig geklärt. Vor seinem Publikum in Main zitiert er mit Freude Langfriststudien aus den USA, die zeigen, dass Frauen, die Margarine der Butter bevorzugen, eine geringere Lebenserwartung haben.

Aus Sicht des Naturwissenschaftlers führt beim Grillen auch kein Weg an der Holzkohle vorbei. Erst die Rauchschwaden von herabtropfenden Fetten und Fleischsäften würden das Steak aromatisieren und so den echten Barbecue-Geschmack erzeugen. Wer Angst vor Krebs durch Rauchentwicklung hat, muss darauf verzichten. Für kaum weniger Streitereien könnten Myhrvolds Erläuterungen zum Thema Kochkunst und Revolution gut sein.

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Seiner Ansicht nach ist die Nouvelle Cuisine, die seit Jahrzehnten die Speisekarten der Spitzenrestaurants dominierte, eine maßgebliche Weiterentwicklung der Küchenkunst des 19. Jahrhunderts – eine Revolution hingegen keineswegs. Sie veränderte zwar mit dem Gebot der leichten Saucen oder dem Verzicht auf mariniertes Fleisch die Kochkunst, in ihren Grundfesten sei Letztere dadurch nicht erschüttert worden.

Diesen Anspruch will er erst den Köchen der jüngeren Vergangenheit wie Ferran Adria oder Heston Blumenthal zugestehen. Sie hätten den entscheidenden Schritt getan, sämtliche Traditionen zu hinterfragen, zu überprüfen, zu modernisieren und damit produktiv zu verwandeln – alles im Dienste eines Esserlebnisses, das eben mehr ist als reine Nahrungsaufnahme: das Resultat von Kunst und Avantgarde in der Küche. Den Forscher Nicholas Kurti indes hätte wohl mehr begeistert, wenn Nathan Myhrvold auch die Vorgänge innerhalb des Soufflés bis in die Details der aus Polygonen bestehenden Schäume beleuchtet hätte.

Perfektion

Ende des Jahres will Myhrvold entscheiden, ob er sich einem anderen Bereich des Genusses widmen wird: dem Backen und der Anfertigung von Süßspeisen. „Da sind die physikalischen Gesetzmäßigkeiten viel wichtiger für das Ergebnis als beim Kochen.“ Dass Wissen und Forschung jedoch nicht immer ausreichen, hat er inzwischen auch lernen müssen. Trotz Einhaltung sämtlicher Parameter sei ihm noch nicht gelungen, was jeder Barmann in Italien nur dank langer Erfahrung beherrscht: ein perfekter Espresso.

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