Alexander Gerst über seine Zeit im All „Ich hatte schon den Orangensaft kaltgestellt für meine Crew“

Alexander Gerst ist mit 362 so lange im All gewesen wie noch kein Deutscher vor ihm. Quelle: REUTERS

Bei seiner ersten Pressekonferenz zurück auf der Erde spricht Astronaut Alexander Gerst über seine Erlebnisse an Bord der ISS, künftige Raummissionen – und warum er das nasskalte Dezemberwetter genießt.

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Vor zwei Tagen schwebte er noch im All, jetzt schreitet Alexander Gerst sicheren Fußes aufs Podium, und man sieht ihm die Strapazen eines halben Jahres in Schwerelosigkeit nicht im geringsten an. Gerst lächelt entspannt ins Publikum: Es ist die erste Pressekonferenz des deutschen Astronauten nach seiner zweiten Weltraummission. Mehrere Dutzend Kameraleute drängen sich im Foyer des Europäischen Astronautenzentrums in Köln, das Fernsehen sendet live, Jan Wörner, Chef der Europäischen Weltraumorganisation Esa, ist eigens angereist.

Gerst ist ein Medienstar, er hat die Deutschen für die Raumfahrt begeistert wie wenige andere. Und nach all den schlechten Nachrichten, die das Jahr brachte, den Krisen und Konflikten, ist seine Rückkehr kurz vor Weihnachten genau das, was die Medien jetzt gebrauchen können: Eine Heldengeschichte, die in Gersts ostfränkischem Heimatort Künzelsau begann und ihn bis ins Weltall führte, ihn zum Kommandanten der Internationalen Raumstation machte. 362 Tage war er insgesamt im All, so lange wie kein anderer Deutscher.

Aber so hoch hinaus ihn seine Karriere gebracht hat – die Bodenhaftung hat der Geophysiker nicht verloren. „Raumfahrt ist die Gesamtleistung eines Teams“, sagt er gleich zu Beginn der Pressekonferenz, „tausende Menschen arbeiten an einer solchen Mission. Ohne jeden einzelnen würde ich es nicht mal bis zur Rakete schaffen.“ Da ist was dran. Und doch ist Gersts Leistung 400 Kilometer hoch über der Erde nicht zu unterschätzen. Denn seine zweite Mission hat den deutschen Raumfahrer vor ganz neue Herausforderungen gestellt.

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von Andreas Menn

Der erste Zwischenfall passiert im August: Der Druck auf der Raumstation fällt leicht ab. Überall sucht die Crew nach der Ursache, bis sie ein mysteriöses Leck findet und stopft, ein millimeterkleines Loch in der russischen Sojus-Kapsel, mit der die Astronauten gewöhnlich nach ihrer Mission zur Erde fliegen. Ein Meteoriteneinschlag – oder Sabotage? Bis heute sei die Ursache nicht gefunden, auch nicht bei einem Weltraumspaziergang, bei dem zwei Kosmonauten das Raumschiff von außen untersuchten, berichtet Gerst.

Dann, Anfang Oktober, wird Gerst Kommandant auf der ISS – und damit verantwortlich für die Station und die Crew. Er ist der erste deutsche Astronaut, der diese wichtige Position übernimmt. Und er spürt die Verantwortung. „Ich habe versucht, die Dinge zusammenzuhalten“, sagt er. Er habe aufgepasst, dass seine Kollegen nicht unter zu starken Zeitdruck gerieten. Abends hangelt sich der Kommandant einmal durch die gesamte Station, um zu schauen, dass keine Kabel im Weg herumschweben und dass alle Geräte funktionieren.

Nur eine Woche später folgt der erste Stresstest: Zwei Astronauten müssen den Flug zur ISS vorzeitig abbrechen und auf der Erde notlanden. „Ich hatte schon den Orangensaft kaltgestellt für meine Crew“, erinnert sich Gerst. Doch aus dem Willkommensumtrunk wird nichts. Stattdessen müssen Gerst und seine zwei Crewmitglieder die Station und alle Experimente an Bord wochenlang in Unterzahl managen. Erst Anfang Dezember kommt eine Ersatzmannschaft an Bord.

Tagsüber koordiniert Gerst die Aufgaben der Crew, verschiebt ein paar Wartungsarbeiten, damit die wissenschaftlichen Experimente wie geplant weiterlaufen können. Auch seine eigenen Forschungen führt er weiter, schiebt Überstunden. Er züchtet Proteine, die etwas über die Ursachen der Parkinson-Krankheit verraten sollen, und Krebszellen, um herauszufinden, wie sich ihre Blutversorgung stoppen lässt. 200 Experimente werden es insgesamt sein, fast alle kann er trotz Zeitdruck abschließen.

Auch um die Moral der Crew kümmert sich Gerst – weil die geplanten Kollegen fehlen, wird der Zusammenhalt im internationalen Team umso wichtiger. „Ich habe bewusst entschieden, dass wir abends immer zusammen essen“, berichtet Gerst. Jeden Samstag spannt er eine Leinwand auf und versammelt das Trio zum Kinoabend. Auf dem Programm steht etwa ein Film über die Südpolexpedition von Ernest Henry Shackleton. Auch so ein Forscher, der mit Extremsituationen klar kommen musste.

Anfang Dezember kommt die Ersatzmannschaft an Bord – drei Astronauten, die Gerst aus dem Training seit Jahren kennt und die eigentlich nicht zeitgleich mit ihm zur ISS fliegen sollten. Jetzt sind seine Freunde mit an Bord – eine Überraschung, die Gerst Freude macht. Aber er sendet auch immer wieder besorgte Botschaften per Videoschalte zur Erde, um den Menschen seinen Blick auf den Planeten zu schildern – und ihnen zu verdeutlichen, wie wichtig der kleine blaue Punkt im All ist, der einzige, auf dem Menschen leben. Und der durch Klimawandel und Verschmutzung bedroht ist wie nie.

Am 20. Dezember heißt es für Gerst dann Abschied nehmen: Er steigt mit zwei Crewmitgliedern in die Sojus-Kapsel, dockt von der ISS ab und startet das Manöver zum Wiedereintritt in die Atmosphäre. Wieder ein Stressmoment, als sich herausstellt, dass das Funkkabel im Raumanzug seines Kollegen Sergei Prokopyev defekt ist. Entweder lässt er sein Visier offen, um ein Headset zu benutzen, oder schließt es, kann aber nicht kommunizieren. Gerst bleibt cool, lässt den Kollegen das Visier in ruppigen Momenten des Abstiegs schließen. „Ich habe dann die Kommunikation mit der Bodenkontrolle übernommen“, erzählt er.

Um 6:02 Uhr mitteleuropäischer Zeit landet die Raumkapsel in der Steppe von Kasachstan – ohne weitere Zwischenfälle. Die Bergungstruppen holen die drei Astronauten ab. Wenig später bringt ein Spezialflugzeug der US-Raumfahrtorganisation Nasa Gerst zum Köln-Bonner Flughafen. Von dort geht es für ihn direkt ins benachbarte Astronautenzentrum zum Gesundheitscheck: Blut- und Speichelproben, Muskelmessungen, Augenuntersuchungen.

Der Hurrikan „Florence“, aufgenommen von Alexander Gerst aus der Raumstation ISS. Quelle: dpa

Wie sich herausstellt, ist Gerst topfit, auch dank des täglichen Fitness-Trainings in der Raumstation. „Ich habe sogar Muskelmasse hinzugewonnen“, erzählt er. Gewöhnlich verlieren Menschen Muskeln, weil sie in der Schwerelosigkeit weniger eingesetzt werden. Der 42-Jährige trainiert auch nach der Landung weiter, zweieinhalb Stunden Sport absolviert er morgens vor der Pressekonferenz. Und ist fasziniert von der Natur, die ihm ein halbes Jahr vorenthalten geblieben ist: „Nachts durch einen Dezembernieselschauer zu laufen, ist vielleicht nicht für alle eine schöne Sache“, sagt er. „Jetzt merke ich, dass ich das vermisst habe. Oder den Wald zu riechen, das Gras, und den Wind im Gesicht zu spüren.“

Was wären wir Menschen ohne die Erde? „Unmöglich, sich das vorzustellen“, sagt Gerst. „Kinder, die eines Tages auf Raumstationen geboren werden, wüssten nicht, was ein Sandstrand ist, ein Wald, was Felder sind“. Es ist das zentrale Thema seiner Weltraummissionen: Die Entbehrungen im All, der entrückte Blick auf den Planeten, macht Gerst immer wieder klar, wie wertvoll dieser kleine Fleck voll Leben im kalten All ist.

Da wird es fast etwas besinnlich auf der Pressekonferenz in Köln so kurz vor Weihnachten. Was Gerst vermisse, möchte ein Reporter wissen. „Meine Freunde da oben“, sagt Gerst, „ich vermisse sie jetzt schon.“ Dafür kann er nun über die Feiertage zu seiner Familie. „Ich habe dieses Jahr keine Weihnachtsgeschenke“, sagt er und lacht, „aber ich habe eine gute Ausrede dafür.“

Ob es für ihn so bald wieder ins All geht? Esa-Chef Jan Wörner hat zum Auftakt der Pressekonferenz schon die nächsten Pläne angesprochen, von einer internationalen Raumstation erzählt, die bald vielleicht um den Mond kreist. Menschen würden ohne Zweifel bald wieder einen Fuß auf die Mondoberfläche setzen, sagt Wörner. Ob Gerst dabei sein wird? „Ich bin nach wie vor im Astronautenkorps“, sagt er. „Das heißt, ich stehe für weitere Flüge zur Verfügung.“ Jetzt aber hat er erst einmal Zeit, um wieder anzukommen – daheim auf der Erde.

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