Wie nützlich eine wissenschaftliche Entdeckung ist, stellt sich oft erst viele Jahre später heraus. Umgekehrt sind manche Erfindungen im Rückblick sogar schädlich, in die zuvor große Hoffnungen gesetzt wurden.
Entsprechend knifflig ist jedes Jahr aufs Neue die Entscheidung der schwedischen Nobelpreis-Jury für Physik, Chemie und Medizin, welche Wissenschaftler auf den Forschungsthron zu setzen sind. Schließlich könnte sich die Wahl einmal als nicht mehr nachvollziehbar erweisen. Dann riskiert die Jury ihren guten Ruf.
Von der Entdeckung bis zum Nobelpreis - „es gibt Beispiele, wo das mehr als 50 Jahre gedauert hat“, erzählt der Vorsitzende des Nobelkomitees für Physik, Lars Brink. Der russische Forscher Witali Ginsburg (1916-2009) bekam die Auszeichnung 2003 für „bahnbrechende Arbeiten in der Theorie über Supraleiter und Supraflüssigkeiten“, die er in den 50er Jahren geleistet hatte.
Zehn Mythen über den Nobelpreis
Richtig. Adolf Hitler wurde 1939 von dem schwedischen Abgeordneten E.G.C. Brandt für den Preis nominiert, der „Brüderlichkeit unter den Nationen“ und weltweite Abrüstung vorantreiben soll. Brandt zog die Nominierung später zurück und erklärte, sie sei satirisch gemeint gewesen. Die Episode zeigt, dass praktisch jedermann nominiert werden kann. Über die Aussichten, den Preis tatsächlich zu bekommen, sagt eine Nominierung nichts aus.
Falsch. Der Friedensnobelpreis wird, wie von Alfred Nobel verfügt, in Oslo verkündet und verliehen. Warum Nobel das so wünschte, ist nicht bekannt.
Richtig. Der Preis für Wirtschaftswissenschaften zählte nicht zu den fünf Auszeichnungen, die Alfred Nobel in seinem Testament für die Kategorien Medizin, Physik, Chemie, Literatur und Frieden forderte. Er wurde 1968 zu Ehren Nobels von der schwedischen Zentralbank gestiftet. Er wird gemeinsam mit den anderen Preisen bekanntgegeben, ist mit demselben Preisgeld in Höhe von acht Millionen schwedischen Kronen (878.000 Euro) dotiert und wird bei der jährlichen Nobelpreiszeremonie im Dezember verliehen. Doch formal ist er kein Nobelpreis. Der offizielle Name lautet „Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank“.
Richtig. Das Geschlecht spiele bei ihrer Entscheidung über die Preisträger jedoch keine Rolle, sagen die Nobel-Juroren. Das Verhältnis spiegele nur die historische Dominanz von Männern in vielen Forschungsbereichen wider.
Falsch. Seit 1974 werden von den Preiskomitees nur lebende Personen berücksichtigt. 2011 machte die Nobelstiftung allerdings eine Ausnahme: Erst unmittelbar nach der Bekanntgabe des Preises für Medizin hatte sich herausgestellt, dass einer der Geehrten, der kanadische Immunforscher Ralph Steinman, wenige Tage zuvor gestorben war. Die Stiftung beließ es bei der Entscheidung, Steinmans Anteil am Preisgeld ging an seine Hinterbliebenen.
Falsch. Die Französin Marie Curie gewann 1903 den Preis für Physik und 1911 den für Chemie. Der US-Chemiker und Friedensaktivist Linus Pauling erhielt 1954 den Nobelpreis für Chemie, acht Jahre später wurde er mit dem Friedensnobelpreis geehrt.
Falsch. Der redegewandte, konservative britische Politiker Winston Churchill erhielt zwar einen Nobelpreis, allerdings in der Kategorie Literatur. Er wurde damit 1953 „für seine meisterlichen historischen und biografischen Schilderungen sowie für brillante Rhetorik bei der Verteidigung erhabener menschlicher Werte“ ausgezeichnet.
Falsch. Die Nobelstatuten besagen, dass die Auszeichnungen unter mehreren Preisträgern aufgeteilt werden können, doch in keinem Fall „darf eine Preissumme unter mehr als drei Personen aufgeteilt werden“.
Richtig. Die Nobelstatuten sind diesbezüglich eindeutig. Wer einen Nobelpreis bekommen hat, behält ihn für immer. Paragraf 10 lautet: „Gegen die Entscheidung eines Preisgremiums dürfen keine Einsprüche bezüglich der Zuerkennung eines Preises erhoben werden.“ Online-Petitionen, die zum Entzug eines bestimmten Preises aufrufen, sind daher wirkungslos.
Falsch. Es gibt keine Obergrenze, wie oft jemand mit einem Nobelpreis geehrt werden kann. Der US-Wissenschaftler John Bardeen gewann den Preis für Physik zweimal, 1956 und 1972. Der britische Biochemiker Frederick Sanger erhielt zwei Preise für Chemie, 1958 und 1980.
Der Inder Subrahmanyan Chandrasekhar (1910-1995) musste nach seinen Entdeckungen über weiße Zwerge ebenfalls rund ein halbes Jahrhundert auf den Physik-Nobelpreis warten. Raymond Davis (1914-2006) nahm den Preis für seine Errungenschaften in der Astrophysik mit 88 Jahren entgegen.
Dabei hatte Alfred Nobel in seinem Testament festgelegt, dass diejenigen den Preis bekommen sollten, „die im abgelaufenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen gebracht haben“. Dass Nobelpreise erst einige bis viele Jahre nach der Entdeckung vergeben werden, ist aber kein neues Phänomen. Auch der erste Physik-Nobelpreisträger Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923) bekam die begehrte Auszeichnung erst sieben Jahre nachdem er die gleichnamigen Strahlen entdeckt hatte.
Es gibt auch Gegenbeispiele: Zwei amerikanische Forscher mit chinesischen Wurzeln, Chen Ning Yang und Tsung-Dao Lee, entdeckten 1956, dass der Paritätssatz nicht bei allen physikalischen Phänomenen erfüllt ist, wofür sie gleich im Jahr darauf mit dem Nobelpreis für Physik geehrt wurden. Die Regel seien aber etwa 20 Jahre, sagt der Vorsitzende des Nobelkomitees für Chemie, Sven Lidin. „Die Wissenschaft ist ein sehr konservatives Spiel - und es braucht Zeit, bis man die volle Bedeutung einer neuen Entdeckung verstehen kann. Es gibt eine Inkubationszeit, bevor die wissenschaftliche Gemeinschaft begreift, dass etwas bedeutend ist.“
Ruhig angehen lassen
Deshalb heißt es meist erst einmal: Ruhig angehen lassen, um später nichts bereuen zu müssen. Schließlich gab es in der Geschichte der Nobelpreise auch Vergaben, die heute nicht mehr unbedingt nachvollziehbar sind. Zum Beispiel die an den portugiesischen Neurologen Antonio Egas Moniz im Jahr 1949, der ein Verfahren entwickelt hatte, mit dem er psychisch Kranke heilen wollte. Der Eingriff veränderte ihre Persönlichkeit jedoch bisweilen drastisch, schreibt Heinrich Zankl in seinem 2005 erschienenen Buch „Nobelpreise“.
Ein anderes Beispiel: Der dänische Pathologe Grib Fibiger wurde für die Entdeckung eines krebserregenden Parasiten ausgezeichnet, die sich später als kompletter Irrtum erwies. „Mit den Jahren sind wir sehr vorsichtig geworden“, sagt Brink. „Man kann den Preis keiner theoretischen Entdeckung geben, die nicht belegt ist.“
Stephen Hawking wird wohl keinen Nobelpreis erhalten
Das gilt auch als ein Grund dafür, dass der berühmte Astrophysiker Stephen Hawking noch keinen Nobelpreis hat. „Er hat in der Theorie einige wichtige Entdeckungen gemacht, von denen wir alle glauben, dass sie richtig sind - aber wir müssen sicher sein, dass sie stimmen“, sagt Brink. Hawkings Theorien wie die, dass Schwarze Löcher unter bestimmten Umständen Energie verlieren, seien extrem schwierig zu überprüfen. „Das ist unglücklich, aber wir können nichts dagegen tun.“
Für die drei wissenschaftlichen Nobelpreise, die in diesem Jahr zwischen dem 7. und 9. Oktober vergeben werden, sind regelmäßig 300 bis 400 Kandidaten nominiert. „Viele große Entdeckungen werden nicht prämiert. Man muss auch ein wenig Glück haben“, sagt Lidin.
Ausgesprochenes Pech hatte in dieser Hinsicht der norwegische Meteorologe Vilhelm Bjerknes (1862-1951), der zwar mehr als 50 Mal für einen Nobelpreis nominiert wurde, ihn aber nie bekam, wie Zankl schreibt. Ähnlich oft sei der deutsche Physiker Friedrich Paschen (1865-1947) für den Preis vorgeschlagen worden - und immer leer ausgegangen.
Besonders traurig ist aber die Geschichte des kanadischen Immunforschers Ralph Steinman. Er war drei Tage, bevor die Nobel-Jury ihn 2011 als Preisträger im Bereich Medizin verkündete, gestorben. Die Juroren erfuhren erst nach der Zuerkennung von seinem Tod - und verliehen erstmals seit 50 Jahren einen Nobelpreis posthum.