Parallelen zur Beirut-Katastrophe Die Ammoniumnitrat-Explosion von Ludwigshafen

Vor 100 Jahren explodierten in Oppau rund 400 Tonnen der Chemikalie Ammoniumsulfatnitrat in einem Düngemittelwerk. Quelle: Getty Images

Nach der Explosion in Beirut stellen sich Fragen: Wieso wurde dort ein derart gefährlicher Rohstoff wie Ammoniumnitrat gelagert? Noch dazu in solch großen Mengen? Antworten gibt eine andere Katastrophe – die sich vor 100 Jahren in Deutschland ereignete.

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Selbst diejenigen, die den Unfall nur aus weiter Entfernung beobachtet hatten, sprachen von einer „gewaltigen, blitzartig in dem Himmel schießenden Feuererscheinung“; einem „sich rasant ausbreitenden Riesenring“, der sich unter „furchtbarem Rollen und Prasseln“ blitzartig vom Explosionszentrum ausbreitete und „alles im Weg Stehende mit unvorstellbarer Gewalt mit sich riss“. Binnen Sekundenbruchteilen macht die Druckwelle in mehreren Kilometern Umkreis Häuser und Fabrikgebäude dem Erdboden gleich. Die Zahl der Opfer ist zunächst kaum zu überblicken, den Helfern bieten sich traumatisierende Bilder.

Was klingt wie die Beschreibung der schweren Explosion, die am späten Dienstagnachmittag die libanesische Hauptstadt Beirut erschüttert hat, sind die Schilderungen einer der größten zivilen Explosionskatastrophen in Deutschland: Vor knapp 100 Jahren, am 21. September 1921, detonierte das Düngemittelwerk in Oppau bei Ludwigshafen. 

Die gewaltige Explosion riss große Teile der Hafenanlagen von Beirut weg und zerstörte fast alle umstehenden Gebäude.  Quelle: AP

Rund 400 Tonnen der Chemikalie Ammoniumsulfatnitrat flogen damals in die Luft, verwüsteten Ortschaften und töteten hunderte Beschäftigte und Anwohner des Werks. Die Wucht der Explosion war so gewaltig, dass selbst im rund 75 Kilometer entfernten Frankfurt noch Häuser beschädigt wurden. Am Ende kostete die gewaltige Explosion, eines der größten Unglücke der deutschen Chemieindustrie, fast 560 Menschen das Leben.

Detonation bis Zypern zu hören

Wer sich die dramatischen Folgen, die schon die Explosion von 400 Tonnen der Chemikalie bei Ludwigshafen hatte, noch einmal vor Augen führt, der ahnt, welch ein Drama sich hinter den Bildern aus Beirut verbirgt. Ebenso wie hinter der gigantischen Druckwelle, die sich bei der zweiten, stärkeren Explosion wie eine Halbkugel über der libanesischen Stadt ausgebreitet hat. Sie trug den Donnerschlag der Explosion offenbar bis auf die rund 200 Kilometer entfernte Insel Zypern. 

Immerhin sollen in Beirut rund 2700 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen gelagert gewesen sein, so der libanesische Ministerpräsident Hassan Diab. Und Ammoniumnitrat ist in dieser Menge nochmals weit brisanter als die 400 Tonnen, die im pfälzischen Düngemittelwerk in die Luft geflogen sind.

Im rund 75 Kilometer entfernten Frankfurt wurden noch Häuser beschädigt. Am Ende kostet die gewaltige Explosion, eines der größten Unglücke der deutschen Chemieindustrie, fast 560 Menschen das Leben. Quelle: Getty Images

Ammoniumnitrat ist ein wichtiger Grundstoff für Düngemittel, aber wegen seiner besonderen Reaktionsfähigkeit als Nitrat auch ein Rohstoff zur Produktion von Sprengstoffen. „Speziell der nach der zweiten Explosion aufsteigende riesige Rauchpilz ist ein deutliches Indiz dafür, dass bei dem Unglück große Mengen sogenannter ‚nitroser Gase‘ freigeworden sind“, sagt Andreas Bräutigam, Chemiker und Experte für Gefahrstoffeinsätze beim Verband der Feuerwehren in Nordrhein-Westfalen. „Die markante rostrote Farbe ist ein charakteristisches Merkmal für chemische Reaktionen mit Nitraten.“

Nitrose-Gase sind ein gefährliches Atemgift, das im Brandrauch enthalten sein kann, weshalb Feuerwehren Brände in der Regel unter Atemschutz bekämpfen. Im Beiruter Fall geht Bräutigam allerdings davon aus, dass die Gase durch die aufsteigende Hitze der Folgebrände nach der Explosion rasch in die Höhe gestiegen sind und sich dadurch verdünnt haben.

Bei BASF ging eine Sprengung schief

Angesichts der verheerenden Zerstörungen stellt sich die Frage, warum das offenbar so gefährliche Material schon seit Jahren im Hafen der Hauptstadt gelagert war. Eine zumindest für Laien verblüffende Antwort ist, dass der Stoff als solcher gar nicht besonders explosionsgefährdet und nicht einmal brennbar ist. Das erklärt auch, warum es für die Verantwortlichen in der BASF-Fabrik in Oppau vor knapp 100 Jahren völlig normal war, dass sie die dort gelagerte Substanz, ein Mix aus Ammoniumnitrat und Ammoniumsulfit, regelmäßig mithilfe kleinerer Sprengladungen auflockerten. Die Düngermischung neigte nämlich immer wieder dazu, zu verkleben. 

Auch am Tag des Unglücks, einem Mittwoch, war daher um 7:30 Uhr morgens eine routinemäßige Lockerungssprengung vorgesehen. Doch statt, wie üblich, nur den in einem Lagerbau deponierten Haufen zu lockern, ging die Zündung schief. Da niemand, der damals in der Nähe war, überlebte, konnte der genaue Hergang nicht rekonstruiert werden. 

Nicht brennbar und doch höchst explosiv

Es gilt allerdings als wahrscheinlich, dass sich die beiden Chemikalien in dem Düngerberg ungleichmäßig verteilt und stellenweise größere Konzentrationen des deutlich reaktiveren Ammoniumnitrats gebildet hatten. Diese zersetzten sich durch die von der Sprengung ausgehende Energie und brachten damit eine katastrophale Kettenreaktion in Gang, wie sie wohl auch in Beirut abgelaufen ist. Oder 2015 in der chinesischen Hafenstadt Tianjin. Dort kam es ebenfalls zu einer verheerenden Detonation, die große Teile des Hafens und Teile der Stadt in mehreren gigantischen Feuerbällen zerstört hat. 

Denn das ist die besondere Brisanz, die in der Chemikalie steckt: Wird sie zu stark erhitzt, beginnt ein fataler Zersetzungsvorgang, bei dem schlagartig sehr viel Stickstoffgas sowie Wasserdampf frei werden, die eine enorme Druckwelle erzeugen. Zudem entsteht sehr viel Sauerstoff, der Brände anheizt. Alle Prozesse zusammen können dann zu einer Detonation führen, wie sie am Dienstagabend offenbar auch den Beiruter Hafen verwüstet hat.

Ähnlich wie vor knapp 100 Jahren in Oppau, als die Lockerungssprengungen den zerstörerischen Zersetzungsprozess in Gang setzten, dürfte es auch in Beirut einen Auslöser gegeben haben, der das gelagerte Ammoniumnitrat instabil werden ließ. Vielleicht ein Brand, wie es nun Videos vermuten lassen? Oder eine frühere, kleinere Explosion? Das wird sich vielleicht nie ganz klären lassen.

Damit sich solche Katastrophen in Deutschland nicht mehr ereignen, ist reines Ammoniumnitrat hierzulande als Dünger nicht länger zugelassen. Das ist eine Lehre aus der verhängnisvollen Detonation von Oppau. „Stattdessen muss die Substanz durch Zugabe anderer Stoffe so stabilisiert werden, dass sie nicht mehr explodieren kann“, erläutert Brandschutzexperte Bräutigam. „Eine Option ist, die Chemikalie mit Kalziumkarbonat zu versetzen. Dieser sogenannte Kalk-Ammon-Salpeter lässt sich dann explosionssicher lagern und verwenden.“ 

Das dafür als Rohstoff erforderliche Ammoniumnitrat wiederum unterliegt der Gefahrstoffverordnung sowie dem Sprengstoffrecht: Es darf nur in kleinen Mengen und brand- sowie explosionsgeschützt gelagert werden, erläutert Experte Bräutigam. „Dass es irgendwo in Deutschland in vergleichbaren Größenordnungen und unter vergleichbaren Umständen gelagert wird, wie es offenbar in Beirut der Fall war, ist hierzulande eigentlich ausgeschlossen.“

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Auch das verheerende Explosionsunglück in einer Pestizidfabrik in der ostchinesischen Stadt Yancheng im März 2019 mit mehr als 150 Toten und Verletzten, führten Ermittler auf Schlamperei und laxen Umgang mit Gefahrstoffen zurück. In China gab es in den vergangenen Jahren mehrere schwere Industrieunfälle.

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